Schütz berichtet in seinem großen Memorial vom 14. Januar 1651 an Kurfürst Johann Georg I. von Sachsen, in dem er seinen bisherigen Lebenslauf erzählt, von den Studienjahren in Venedig ab 1609, jener Zeit, als er begann, » ... das Studium Musices alleine mit allem möglichsten grösten fleis zu tractieren, ... da ichs dann mit göttlicher hülffe, sonder ruhm so weit gebracht habe, das nach dreyen Jahren (undt Ein Jahr zu vohr ehe Ich aus Italia wieder zurücke gereist) Ich mein Erstes Musicalisches Werklein in Italianischer sprache, mit sonderbahrem lobe der damahls fürnembsten Musicorum zu Venedig daselbst habe drucken lassen, und von dar aus Herrn Landgraff Moritzen (deme Ichs auch zu unterthäniger Dancksagung Dedicirt) zugeschickt habe ... «.
Schützens Chronologie war in der Erinnerung nach rund 40 Jahren etwas unscharf geworden - 1611 erschien der Madrigaldruck bei Gardano, 1613 erst trat Schütz die Rückreise nach Deutschland an -, aber sein Stolz auf das »Meisterstück« als Abschluß seines Studiums bei Giovanni Gabrieli, dem überragenden Organisten an San Marco und epochemachenden Komponisten und Kompositionslehrer, war immer noch lebendig.
Bekanntlich ließ Gabrieli um 1553/56-1612 alle seine Schüler, die vor allem aus Deutschland und Dänemark gekommen waren, die Lehrzeit durch eine Serie Madrigale, die auch in Druck zu gehen hatten, beenden, obgleich aus seiner eigenen Feder fast keine Madrigale überliefert sind. Hatte die italienische Madrigalpoesie, die schon im 14. Jahrhundert ihre erste Blüte erlebt hatte, im ausgehenden 16. Jahrhundert insofern einen Reduktionsprozeß durchgemacht, als in der Flut der Dichtungen inhaltlich fast ausschließlich Liebesleid - die Klage des enttäuschten oder vergeblich um Erhörung flehenden Liebhabers, Anklage der spröden Geliebten und dergleichen - und Liebesfreud zur Sprache kamen, so verfeinerten sich auf der anderen Seite die spraehlich-poetischen Mittel bis in manieristische Extreme hinein: gesuchte Vergleichsbilder, extravagante Wortformen, konträre Metaphern auf engstem Raum, jähe Ausdrucks- und Stimmungsumschwünge sind die Norm.
Heinrich Schütz (1585-1672)
Diese hochstilisierte Dichtungsart in ihrer relativ freien, sehr variablen Vers- und Reimstruktur avancierte demzufolge rasch zum Probierfeld entsprechender Vertonungen: in dieser Renaissance-Gattung wurde zielstrebig das Affekten-Komponieren, das Imitieren von im Text genannten Bildern und Vorgängen, vor allem aber die Darstellung verschiedener Gemütslagen mit den musikalischen Mitteln der Harmonie, der »sprechenden« Rhythmik und der melodischen Faktur ausgebildet. Schützens Madrigale auf Texte aus dem Hirtendrama »Il pastor fido« des Battista Guarini (1589/90), vor allem des Erzmanieristen Giambattista Marino - von dem es hieß, er komponiere statt mit Tönen in Worten! - und anderer Autoren sind weit überdurchschnittlich gute Hervorbringungen aus der Endphase der musikalisch-renaissancistischen Madrigalperiode. Mit welcher Sicherheit zeichnet Schütz heiterfreundliche Bilder und Affekte und ihren Umschlag ins genaue Gegenteil!
»Ride 10 primavera ...« (»Es lächelt der Frühling ...«, Nr. 7): Heiter-lachende Achtel, helles g-mixolydisch. »Ma tu Clori serbi l'antico verno« (»Doch du, Cloris, suchst den alten Winter ...«): Welcher Simultan-Kontrast, fast bis ins Absurde geführt, in Text und Musik.
»O dolcezze amarissime d'amore« (»0 bitterste Süßigkeiten der Liebe«, Nr. 2): Ein Topos, der sich durch die ganze Madrigalistik seit dem frühen Klassiker Petrarca (14. Jahrhundert) zieht. Und welch eine Dissonanzkühnheit, verbunden mit einem lockeren »amore«-Motiv!
Titelblatt von Guarinis's "Il pastor fido", Venedig 1590, bei Giovanni Bonfadino
»Fuggi, fuggi,o mio core!« (»Fliehe, fliehe mein Herz!«, Nr. 8): Fliehende Achtel kontrastieren mit den langen Werten auf »core« - quasi als »Hand aufs Herz« -, ruhiger Zuspruch ein das unruhige Herz, Bewegung und Ruhe simultan.
Diese wenigen Beispiele stehen für zahllose weitere. Den Schluß bildet die Huldigung an Schützens Mäzen, den Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel, der ihm die höhere Schulbildung in Kassel, das Jurastudium in Marburg und die Lehrzeit bei Gabrieli finanziert hatte: Das achtstimmig-doppelchörige Stück »Vasto mar ...« (»Weites Meer, in dessen Busen einträchtige Winde aus Hoheit und Tugend sanfte Harmonien bilden. Diese demütigen Klänge« - welche Untertreibung! - »bringt Dir meine Muse dar. Du, großer Moritz, mögest ihnen gewogen sein ...«, Nr. 19; Übersetzung: S. Schmalzriedt): Die doppelchörige Anlage, Ausnahme unter den sonst fünfstimmigen generalbaßlosen Stücken, reflektiert deutlich Schützens tiefen Eindruck vom mehrchörigen Musizieren in Venedig unter Giovanni Gabrieli, der ihn sein Leben lang nicht mehr losgelassen hat. »Vasto mar« stellt die Brücke dar zu den wenig später in Dresden entstehenden mehrchörigen »Psalmen Davids« (1619), der ersten großen Schützschen Transposition venezianischen Spätrenaissance-Musizierens in deutsche Kunstübung.
Quelle: Prof. Dr. Wolfram Steude, im Booklet (Seite 5-7)
TRACKLIST Heinrich Schütz (1585-1672) ITALIENISCHE MADRIGALE "Il Primo libro di Madrigali", Venedig, 1611, bei Gardano [01] Prima parte: O primavera, gioventù de l'anno 3:08 SWV 1 Text: Battista Guarini, Il pastor fido, Venedig 1589/90 Sopran I, II, Tenor, Bariton, Baß [02] Seconda parte: O dolcezze amarissime d'amore 2:28 SWV 2 Text: Battista Guarini, Il pastor fido, Venedig 1589/90 Sopran I, II, Tenor, Bariton, Baß [03] Selve beate, se sospirando 2:51 SWV 3 Text: Battista Guarini, Il pastor fido, Venedig 1589/90 Sopran I, II, Tenor, Bariton, Baß [04] Alma afflitta, che fai 2:38 SWV 4 Text: Giambattista Marino Sopran II, Contra-Alt, Tenor, Bariton, Baß [05] Così morir debb'io 2:56 SWV 5 Text: Battista Guarini, Il pastor fido, Venedig 1589/90 Sopran II, Contra-Alt, Tenor, Bariton, Baß [06] D'orrida selve alpina 2:51 SWV 6 Text: Alessandro Aligieri in »Il gareggiamento poetico« von Carlo Fiamma Sopran II, Contra-Alt, Tenor, Bariton, Baß [07] Ride la primavera 3:11 SWV 7 Text: Giambattista Marino Sopran I, II, Contra-Alt,Tenor, Baß [08] Fuggi, O mio core 2:50 SWV 8 Text: Giambattista Marino Sopran I, II, Contra-Alt,Tenor, Baß [09] Feritevi, viperette mordaci 3:15 SWV 9 Text: Giambattista Marino Sopran I, II, Tenor, Bariton, Baß [10] Fiamma ch'allaccia 2:39 SWV 10 Text: Herkunft unbekannt Sopran I, II, Tenor, Bariton, Baß [11] Quella dama son io 2:27 SWV 11 Text: Battista Guarini, Il pastor fido, Venedig 1589/90 Sopran I, II, Tenor, Bariton, Baß [12] Mi saluta costei 2:50 SWV 12 Text: Giambattista Marino Sopran I, II, Contra-Alt, Tenor, Baß [13] Io moro, ecco ch'io moro 3:31 SWV 13 Text: Giambattista Marino Sopran I, II, Contra-Alt, Tenor, Baß [14] Sospir che dei bel petto 3:18 SWV 14 Text: Giambattista Marino Sopran I, II, Contra-Alt, Tenor, Baß [15] Dunque addio, care selve 3:48 SWV 15 Text: Battista Guarini, Il pastor fido, Venedig 1589/90 Sopran I, II, Contra-Alt, Tenor, Baß [16] Tornate o cari baci 2:12 SWV 16 Text: Giambattista Marino Sopran I, II, Contra-Alt, Tenor, Baß [17] Di marmo siete voi 2:21 SWV 17 Text: Giambattista Marino Sopran I, II, Contra-Alt, Tenor, Baß [18] Giunto è pur, Lidia 2:15 SWV 18 Text: Giambattista Marino Sopran I, II, Contra-Alt, Tenor, Baß [19] Vasto mar 3:22 SWV 19 Text: Heinrich Schütz Chor I: Sopran I, Tenor, Bariton, Baß II Chor II: Sopran II, Contra-Alt, Tenor II, Baß TT: 55:48 CAPELLA LIPSIENSIS Gisela Fetting, Sopran I Roswitha Trexler, Sopran II Herwig Saffert, Contra-Alt Joachim Vogt, Tenor Detlef Schneider, Tenor II (in SWV 19) Gothart Stier, Bariton Hermann Christian Polster, Baß Karl Heinz Schmieder, Baß II (in SWV 19) Ernö Klepoch, Violine I Dietrich Brauer, Violine II Friedemann Starke, Gambe I Doris Linde, Gambe II Peter Klug, Gambe III Dieter Zahn, Violone Günter Angerhöfer, Dulzian Walter Heinz Bernstein, Orgelpositiv, Cembalo Leitung: DIETRICH KNOTHE Recording: Leipzig, Versöhnungskirche, 11/1971 Recording Producer: Reimar Bluth Balance Engineer: Eberhard Richter Recording Engineer: Hartmut Kölbach
Wie auch in anderen Fällen ist auch hier der Versuch, Venezianische Musik mit einem passenden Altmeisterwerk zu illustrieren, zeitlich verfehlt worden. (Um circa ein Jahrhundert). Im Erscheinungsjahr des "Primo libro di Madrigali" ist jedoch ein wenig bekanntes Werk von Carlo Saraceni, die Heilige Cäcilia betreffend, entstanden, das ich hiermit meinen geschätzten Lesern präsentieren möchte.
Links: Albrecht Dürer, Portrait einer jungen Venezianerin, 1505, 33 x 25 cm,
Kunsthistorisches Museum, Wien.
Rechts: Carlo Saraceni (1579-1620), Die Heilige Cäcilia und der Engel, um 1610, 172 x 139 cm, Galleria Nazionale d'Arte Antica, Rom. (Quelle: Web Gallery of Art)
CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 37 MB
rapidgator --- 1fichier --- Filepost --- Depositfile --- adrive
Unpack x70.rar and read the file "Download Links.txt" for links to FLAC+CUE+LOG [55:48] 3 parts, 246 MB
Reposted on June 28, 2014
Musikbeispiele
Track Nr. 7, Ride la primavera
Track Nr. 8, Fuggi, O mio core
1 Kommentar:
Vielen Dank! :-)
Kommentar veröffentlichen