25. Februar 2013

Zwei Wege ins Exil: Adolf Busch und Walter Braunfels

Exildasein ist nicht immer notwendigerweise mit Auswanderung verbunden. Diejenigen, die durch die Rassengesetze der Nazis diskriminiert wurden, wurden oft genug zu Exilanten in ihrem eigenen Land. Institutionalisierte Intoleranz, legalisierte Diskriminierung und der allmähliche Entzug von Rechten führten dazu, dass die Betroffenen öffentliches Leben nur völlig zurückgezogen als Außenstehende betrachten konnten.

Diese Aufnahme erweckt die Kammermusik zweier Komponisten zu neuem Leben, deren Exilschicksale ganz unterschiedliche Hintergründe haben. Adolf Busch, »unser deutscher Geiger«, wie Hitler ihn stolz bezeichnete, war zumindest oberflächlich gesehen der Inbegriff des arischen Musikerideals: blond, blauäugig, markantes Kinn; sein Repertoire war fest in der deutsch-österreichischen Tradition verwurzelt: Bach, Mozart, Beethoven, Schumann und Brahms. Obwohl aus einfachen westfälischen Verhältnissen stammend, war Busch ein wahrer Kosmopolit, tolerant und aufrichtig, ein Mann, der von seinen jüdischen Freunden zweifellos liebevoll als »Mensch« bezeichnet worden wäre. Sein Freund und Kollege Rudolf Serkin, der später Buschs Tochter Irene heiratete, und Karl Doktor, der Bratschist des legendären Busch-Quartetts, waren beide Juden. Adolfs Bruder Hermann, der Cellist des Quartetts, heiratete in eine jüdische Familie ein.

Busch reagierte auf Hitlers Machtübernahme 1933 mit heftiger persönlicher Scham und Verlegenheit. Er schrieb in jenem Jahr: »Die antisemitische Bewegung in Deutschland verschließt mir mein Vaterland - ich fühle mich als Deutscher von dem, was […] in dieser Beziehung geschieht, so angewidert, dass mir in der Atmosphäre die nötige Freude am Musizieren vergangen ist.« Eine Zusammenarbeit irgendeiner Art mit den Nazis war für ihn undenkbar. Nach einer Konzertaufführung des Quartetts in Berlin am 1. April 1933, dem ersten Tag der systematischen Angriffe auf jüdische Geschäfte, sagte Busch den Rest der geplanten Deutschlandtournee des Quartetts ab. Er verließ Deutschland und übersiedelte nach Basel. Nach Ausbruch des Krieges ging er in die USA, wo er mit dem Quartett und einem Kammerorchester große Tourneereisen unternahm. Mit Serkin zusammen gründete er die Marlboro Music School.

Während Busch heute primär als Interpret bekannt ist, war seine Karriere als Komponist und Musiker in den 20er-Jahren von durchaus gleichrangiger Bedeutung. Adolfs Bruder Fritz, der berühmte europäische Dirigent, der erster Kapellmeister von Glyndebourne war, brachte einige Orchesterwerke des Bruders zur Uraufführung. Adolfs Kammermusikwerke waren integraler Bestandteil des Repertoires des Busch-Quartetts. Berühmte Orchesterchefs wie Hermann Scherchen, Wilhelm Furtwängler, Hermann Abendroth und Felix Weingartner dirigierten seine Werke. 1929 spielten Toscanini und die New Yorker Philharmoniker seine Mozartvariationen für großes Orchester op. 41, viermal. Drei bedeutende Musikverlage, Eulenburg, Breitkopf & Härtel und Simrock, publizierten seine Werke.

Adolf Busch
Ironischerweise führte Buschs Haltung in den 30er-Jahren zu einer gewissen Feindseligkeit von Seiten derer, die es leichter fanden, sich opportunistisch anzupassen als fest zu ihren Prinzipien zu stehen. Der Busch-Biograph Tully Potter merkt hierzu an: »Busch machte sich mit seiner aufrichtigen Haltung bei seinen Zeitgenossen, die Schande über sich brachten, nicht beliebt.« Nach dem Krieg betrachteten tatsächlich einige Deutsche Busch als Verräter. Das Verhalten des Dirigenten Herbert von Karajan hingegen, der der NSDAP gleich zweimal beigetreten war (zum ersten Mal 1933, als der Exodus jüdischer Musiker günstige Gelegenheiten eröffnete), wurde als nur den Umständen geschuldet eingestuft. Er wurde schnell rehabilitiert.

Adolf Buschs legendärer Status als Violinist und Kammermusiker hat seine Parallelbegabung als Komponist überschattet. Seine eigenen Kompositionen führen noch immer ein Schattendasein. Sein selbstauferlegtes Exil führte dazu, dass kein bestimmtes Land, weder Deutschland noch die Schweiz oder die USA, Anspruch auf ihn erhob. Nachdem er sich in Vermont niedergelassen hatte, unternahm Busch wenig Anstrengungen, sein eigenes Werk zu fördern. Die Tatsache, dass er weder Jude noch Opfer des Holocaust oder Komponist »entarteter Musik« war, schließt ihn von heutigen Programmen und Serien, die sich solchen Themen widmen, aus. Sein Streichsextett op. 40 wurde am 25. September 1928 in Bonn uraufgeführt und 1933 noch einmal beträchtlich überarbeitet. Das Werk ist nie im Druck erschienen, das Manuskript befindet sich in der Sammlung des Brüder-Busch-Archivs in Karlsruhe. Es ist das überschwengliche Manifest eines Meisters, der in der Schöpfung instrumentaler Herausforderungen, kunstvoller Streicherklangfarben und virtuoser kontrapunktischer Führungen schwelgt.

Adolf Busch kannte Walter Braunfels gut. Beide hatten Beziehungen zur Kölner Musikhochschule. Busch hatte dort studiert (damals noch »Kölner Konservatorium«) und Braunfels wurde dort 1925 zum Ko-Rektor berufen. Ebenso wie Busch war Braunfels eine bedeutende Figur des deutschen Musiklebens mit direkten Verbindungen zu dessen Tradition. Seine Mutter Helene, geborene Spohr, war Pianistin, Großnichte des Geigers und Komponisten Louis Spohr und Bekannte von Liszt und Clara Schumann. Der Uraufführung seiner Oper Die Vögel 1921 unter Bruno Walter folgten in München allein fünfzig weitere Vorstellungen mit zusätzlichen Inszenierungen in Berlin, Wien und Köln. Bruno Walter dirigierte auch Braunfels elektrisierendes Te Deum (1922), das an die einhundert Mal aufgeführt wurde.

Walter Braunfels
Aber mit dem Jahr 1933 war auch seine Karriere beendet. Als sogenannter »Halbjude« wurde Braunfels, obwohl praktizierender Katholik, seines Amtes an der Musikhochschule enthoben. Statt zu emigrieren, traf er die gefährliche Entscheidung, in Deutschland zu bleiben, wo er im Herbst 1937 in die Nähe des idyllischen Überlingen am Bodensee zog. In den nachfolgenden Jahren waren öffentliche Aufführungen seiner Werke verboten. Wie so viele vom Naziregime als »Voll-«, »Halb-« oder »Vierteljuden« rassistisch kategorisierte Menschen fühlte sich Braunfels durch die Verbundenheit zu seiner Heimat in Deutschland festgehalten und von der Vorstellung, sich im Ausland neu etablieren zu müssen, überfordert. Glücklicherweise hatte er ausreichende finanzielle Mittel, um sich über Wasser halten zu können. Völlig ausgeschlossen vom Berufsleben, zog er sich in die innere Emigration zurück. Braunfels flüchtete sich in die Fertigstellung seiner Oper Szenen aus dem Leben der heiligen Johanna und widmete sich zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben auch der Kammermusik: 1944 komponierte er zwei Streichquartette und 1945 das Streichquintett in fis-moll op. 63. Ein drittes Streichquartett entstand 1947.

Von Beziehungen zum Naziregime unbelastet wurde Braunfels 1946 zum Direktor der Kölner Musikhochschule wiederberufen. Dennoch ist er nach seinem Tod 1954 fast völlig in Vergessenheit geraten. Erst in den letzten zehn Jahren ist das Interesse an seinem Werk wiedererwacht, insbesondere auch durch erwähnenswerte Aufführungen und Aufnahmen der Oper Die Vögel und des Te Deum. Sein Streichquintett hingegen ist bisher übersehen worden, und so ist diese Aufnahme die Ersteinspielung des Werkes. Ekstatisch-lyrischer Gefühlsausdruck, harmonische Opulenz und konzentrierte musikalische Entwicklungen wiegen die enorme praktische Komplexität des Werkes, das eine zentrale Stellung innerhalb der Kammermusikliteratur verdient, mehr als auf.

Nach dem Krieg entstand verständlicherweise das Bedürfnis, von den Nazis verbotene Musik zu fördern. Die Gründung der Darmstädter Schule, die Förderung ihrer Komponisten und Anhänger und die allmähliche Vorherrschaft der Avantgarde, insbesondere in den Hochschulen, führten dazu, dass die Komponisten, die eher traditionelle Wege gegangen waren, als reaktionär angesehen wurden. Zu den stilistischen Einflüssen auf Braunfels zählen Strauss, Pfitzner, Bruckner, Wagner und Beethoven; Busch ist von Reger, Brahms und Bach beeinflusst. So empörend es auch heute erscheinen mag, der sicherste Weg, diese Komponisten zu verunglimpfen, war in jener Zeit, sie mit dem musikalischen Konservatismus der Nazis zu assoziieren und ihnen damit ein künstlerisches und implizit auch politisches Sympathisantentum zu unterstellen. Die »Neue Musik«, welche die Nazis mit größter Wahrscheinlichkeit als »entartet« bezeichnet hätten (so die Werke von Leibowitz, Nono, Stockhausen und Boulez), definierte ihre Komponisten hingegen unabhängig von deren tatsächlicher politischer Einstellung als ihrem Wesen nach wertvoll. Mit der Zeit verebbte der Streit zwischen den musikalisch und ästethisch entgegengesetzten Lagern. Eine Verständigung ist gefunden worden, die den Wert des Werks an sich in den Vordergrund treten lässt. Das neu erwachte Interesse für die beiden bedeutenden Streicher-Kompositionen von Adolf Busch und Walter Braunfels bezeugt diesen Prozess.

Quelle: Simon Wynberg, im Booklet (Übersetzung: Helmut Reichenbächer)

Track 8: Walter Braunfels: Streichquintett op. 63 - IV. Finale - Rondo




TRACKLIST

TWO ROADS TO EXILE 
Adolf Busch / String Sextet 
Walter Braunfels / String Quintet 
ARC ENSEMBLE 
(Artists of The Royal Conservatory) 

ADOLF BUSCH (1891-1952) 

STRING SEXTET IN G MAJOR, OP. 40 
1 Allegro                     9:51 
2 Molto adagio e cantabile    6:38 
3 Presto                      3:25 
4 Allegro con. spirito        5:37 

Marie Bérard & Benjamin Bowman violins
Steven Dann & Carolyn Blackwell violas 
Bryan Epperson & David Hetherington cellos

WALTER BRAUNFELS (1882-1954)

STRING QUINTET IN F-SHARP MINOR, OP. 63 
5 Allegro                    13:41 
6 Adagio                     11:42 
7 Scherzo                     6:25 
8 Finale - Rondo              8:10 

Benjamin Bowman & Marie Bérard violins
Steven Dann viola 
Bryan Epperson & David Hetherington cellos

Total Running Time:          66:02

Recorded in Koerner Hall, The Royal Conservatory, Toronto,
November 16-18, 2009
Executive Producer/Artistic Director, ARC: Simon Wynberg
Producer: David Frost - Recording Engineer: Carl Talbot
Mixing Engineer: Tom Lazarus - Mastering: Silas Brown

Cover picture: "Neanderthal Motorway Bridge", c.1938, August Sander 
August Sander (1876-1964) worked in Cologne for much of his life. 
When the Nazis banned his portraits during the 1930s, 
he turned to nature and architecture for his photographic subjects. 

(c)+(p) 2010 

Der Anzug und die Photographie
August Sander: Jungbauern, Westerwald. 1914

Was hat August Sander den Leuten gesagt, bevor er Aufnahmen von ihnen machte? Und wie drückte er sich aus, daß sie ihm alle in gleicher Weise glaubten? Jeder von ihnen blickt mit dem gleichen Ausdruck in den Augen auf die Kamera. Soweit Unterschiede bestehen, ergeben sie sich aus Erfahrung und Charakter des Betreffenden - der Priester hat ein anderes Leben geführt als der Tapezierer; aber für sie alle stellt Sanders Kamera den gleichen Gegenstand dar.

Sagte er einfach, ihre Photographien würden ein dokumentiertes Teilstück der Geschichte sein? Und benutzte er den Begriff »Geschichte« so, daß ihre Eitelkeit und Scheu wegfielen, daß sie in das Objektiv blickten, und sich - eine seltsame historische Zeitform benutzend - sagten: So sah ich aus? Wir können es nicht wissen. Wir können nur die Einmaligkeit seines Werkes anerkennen, das er unter dem Gesamttitel »Menschen des Zwanzigsten Jahrhunderts« zu veröffentlichen plante.

Sein eigentliches Ziel bestand darin, in der Gegend von Köln, wo er 1876 geboren worden war, archetypische Repräsentanten für jeden möglichen Typus, jede soziale Klasse, jede Unterklasse, jede Beschäftigung, jede Berufung und jedes Privileg zu finden. Er wollte alles in allem 600 Portraitaufnahmen machen. Das Projekt wurde durch Hitlers Drittes Reich vorzeitig abgebrochen.

Sein Sohn Erich, ein Sozialist und Antinazi, wurde in ein Konzentrationslager verschickt, wo er starb; der Vater versteckte seine Archive auf dem Land. Was heute geblieben ist, ist ein außerordentliches soziales und menschliches Dokument. Kein anderer Photograph, der Portraitaufnahmen seiner eigenen Landsleute machte, hat je auf so klare Weise dokumentarisch gearbeitet.

Walter Benjamin schrieb 1931 über die Arbeit von Sander: »Der Autor ist an diese ungeheure Aufgabe nicht als Gelehrter herangetreten, nicht von Rassentheoretikern oder Sozialforschern beraten, sondern, wie der Verlag sagt, 'aus der unmittelbaren Beobachtung'. Sie ist bestimmt eine sehr vorurteilslose, ja kühne, zugleich aber auch zarte gewesen, nämlich im Sinne des Goetheschen Wortes: 'Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird.' Demnach ist es ganz in der Ordnung, daß ein Betrachter wie Döblin gerade auf die wissenschaftlichen Momente in diesem Werk gestoßen ist und bcmerkt: 'Wie es eine vergleichende Anatomie gibt, aus der man erst zu einer Auffassung der Natur und der Geschichte der Organe kommt, so hat dieser Photograph vergleichende Photographie getrieben und hat damit einen wissenschaftlichen Standpunkt oberhalb des Detailphotographen gewonnen.' Es wäre ein Jammer, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse die weitere Veröffentlichung dieses außerordentlichen corpus verhinderten. (...) Sanders Werk ist mehr als ein Bildbuch: ein Übungsatlas.«

Im forschenden Sinne von Benjamins Bemerkungen will ich Sanders bekannte Photographie von drei jungen Bauern untersuchen, die am Abend auf der Straße unterwegs zum Tanz sind. Es gibt soviel beschreibende Information in diesem Bild wie im Werk von Zola, einem Meister der Beschreibung. Doch will ich nur eine Sache betrachten: ihre Anzüge.

August Sander: Jungbauern. 1926
Es ist 1914. Die drei jungen Männer gehören, bestenfalls, der zweiten Generation an, die in Europa auf dem Land je solche Anzüge trug. Zwanzig oder dreißig Jahre früher gab es solche Kleidung nicht zu Preisen, die Bauern sich hätten leisten können. Bei den Jungen von heute sind steife dunkle Anzüge seltener geworden, zumindest in den Dörfern Westeuropas. Aber in einem Gutteil dieses Jahrhunderts trugen die meisten Bauern - und die meisten Arbeiter - bei feierlichen Gelegenheiten, an Sonn- und Festtagen einen dunklen, dreiteiligen Anzug.

Wenn ich im Dorf, in dem ich wohne, zu einem Begräbnis gehe, haben ihn die Männer meines Alters und Ältere immer noch an. Natürlich gab es modische Veränderungen: Die Weite der Hosen und Aufschläge, die Länge der Jacken ändern sich. Aber äußeres Erscheinungsbild und Aussage ändern sich nicht.

Betrachten wir zunächst die äußere Erscheinung. Oder, genauer, die äußere Erscheinung, wenn der Anzug von Dorfbauern getragen wird. Und um die Verallgemeinerung überzeugender zu gestalten, sehen wir uns eine zweite Photographie an, von Dorfmusikanten.

Sander machte dieses Gruppenportrait 1913. Es hätte sich dabei sehr wohl um die Musikanten des Tanzabends handeln können, zu dem die drei mit ihren Spazierstöcken unterwegs sind. Jetzt mache man ein Experiment: Man decke die Gesichter der Musikergruppe mit einem Stück Papier ab und betrachte nur ihre bekleideten Körper.

Auch wenn man seine Phantasie noch so sehr bemüht, man wird nicht auf die Idee kommen können, daß diese Körper zur Mittel- und Oberklasse gehören. Vielleicht daß sie eher Arbeitern als Bauern gehören; aber sonst ist man sich seiner Sache sicher. Auch die Hände geben keinen Anhaltspunkt - man kann sie ja nicht berühren. Warum also ist die Klassenzugehörigkeit so deutlich sichtbar?

Ist es eine Frage der Mode und der Stoffqualität? Im wirklichen Leben wären solche Einzelheiten bezeichnend. Auf einer kleinen Schwarzweißphotographie sind sie kaum zu erkennen. Doch die statische Photographie zeigt, vielleicht auffälliger als im Leben, die entscheidende Ursache dafür, daß ein Anzug die soziale Klasse seines Trägers nicht verdeckt, sondern, im Gegenteil, unterstreicht und betont.

Ihr Anzug entstellt sie. Sie sehen darin aus, als seien sie körperlich mißgestaltet. Nun sieht ein vergangener Kleidungsstil oft so lange absurd aus, bis er wieder in die Mode integriert wird. Und in der Tat beruht die ökonomische Logik der Mode darauf, das Altmodische absurd wirken zu lassen. Aber hier werden wir nicht in erster Linie mit dieser Art von Absurdität konfrontiert; hier wirken die Kleider weniger absurd, weniger »abnorm«, als die Körper der Männer, die in ihnen stecken.

Die Musiker sehen aus, als wären sie schlecht zusammengesetzt, mit krummen Beinen, tonnenformigen Brustkästen, zu tief hinabgezogenem Hintern, verdreht oder verwinkelt. Man könnte fast meinen, der Geigenspieler rechts sei ein Zwerg. Ihre Abnormitäten sind nirgendwo extrem. Sie erwecken kein Mitleid. Sie reichen gerade aus, um der körperlichen Würde Abbruch zu tun. Wir sehen auf Körper, die plump, ungeschlacht, tierisch-derb erscheinen. Ohne daß man dies irgendwie ändern könnte.

Jetzt mache man das umgekehrte Experiment. Man bedecke die Körper der Musikanten und sehe nur ihre Gesichter an. Es sind Gesichter vom Lande. Niemand könnte auf die Vermutung kommen, es handle sich bei diesen Leuten um eine Gruppe von Rechtsanwälten oder Aufsichtsräten. Es sind fünf Männer aus einem Dorf, die gerne Musik machen, und das mit einer gewissen Selbstachtung tun. Wenn wir die Gesichter betrachten, können wir uns vorstellen, wie die Körper auszusehen hätten. Und was wir uns vorstellen, ist ziemlich anders als das, was wir gerade gesehen haben. Wir stellen sie uns so vor, wie etwa ihre Eltern sich vielleicht an sie erinnern würden, wenn sie abwesend sind. Wir gestehen ihnen die normale Würde zu, die sie besitzen.

August Sander: Bauernkapelle. 1913
Um deutlicher zu machen, um was es geht, wenden wir uns nun einem Bild zu, in dem Herrenanzüge die körperliche Identität und damit die natürliche Autorität der Leute, die sie tragen, nicht deformieren, sondern erhalten. Ich habe mit Absicht eine Photographie von Sander gewählt, die altmodisch aussieht und sich ohne weiteres zur Parodie eignen würde: die Photographie von vier protestantischen Missionaren aus dem Jahre 1931.

Obwohl sie sich so gewichtig geben, kann man auf das Experiment mit den abgedeckten Gesichtern verzichten. Es ist klar, daß die Anzüge hier wirklich die körperliche Präsenz der Leute, die sie tragen, unterstreichen und verstärken. Die Kleider vermitteln denselben Eindruck wie die Gesichter und die Geschichte der Körper, die sie bedecken. Anzug, Erfahrung, soziale Formation und Funktion sind eins.

Sehen wir uns jetzt nach den dreien auf ihrem Weg zum Tanzabend um. Ihre Hände wirken zu groß, ihre Körper zu dünn, ihre Beine zu kurz. (Sie halten ihre Spazierstöcke, wie wenn sie Vieh treiben würden.) Wir können das Experiment mit den Gesichtern wiederholen, und das Ergebnis ist genau dasselbe wie bei den Musikanten. Nur ihre Hüte können sie so tragen, als ob sie zu ihnen paßten.

Wohin führt uns das? Nur zu der Schlußfolgerung, daß Bauern keine guten Anzüge kaufen können und nicht wissen, wie man sie trägt? Nein, hier geht es um ein bezeichnendes, wenn auch kleines Beispiel (vielleicht das bezeichnendste überhaupt) für das, was Gramsci »Klassen-Hegemonie« nannte. Sehen wir uns die Widersprüche, die dabei eine Rolle spielen, genauer an.

Die meisten Bauern sind, wenn sie nicht an Unterernährung leiden, körperlich stark und kräftig gebaut. Kräftig gebaut wegen der vielfältigen schweren körperlichen Arbeit, die sie leisten. Es wäre zu einfach, eine Liste körperlicher Merkmale aufzustellen - breite Hände, da man schon von klein auf mit ihnen arbeitet, im Verhältnis zum Körper breite Schultern, weil man gewohnt ist, Lasten zu tragen, und so weiter. Tatsächlich gibt es daneben viele Abweichungen und Ausnahmen, aber man kann von einem bestimmten körperlichen Rhythmus sprechen, den sich die meisten Bauern, Frauen wie Männer, aneignen.

Dieser Rhythmus hängt direkt mit der Energie zusammen, die man aufbringen muß, um die an einem Tag anfallende Arbeit zu leisten, und er drückt sich in typischen Körperbewegungen und einer bestimmten Haltung aus. Es ist ein weit ausholender Rhythmus. Nicht unbedingt langsam. Die traditionellen Tätigkeiten des Mähens mit der Sense oder des Sägens können als Beispiel dienen. Er wird deutlich in der Art und Weise, wie Bauern auf Pferden reiten, oder wie sie gehen; so, als ob sie die Erde mit jedem Schritt prüfen wollten. Zusätzlich besitzen Bauern eine spezielle körperliche Würde: Sie beruht auf einer Art Funktionalismus, darauf, sich in der Anstrengung völlig heimisch zu fühlen.

Der Anzug, so wie wir ihn heute kennen, entwickelte sich im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts in Europa zum professionellen Kostüm der herrschenden Klasse. Beinahe so anonym wie eine Uniform, war er das erste Kostüm, das eine ausschließlich ruhende Machtausübung idealisieren sollte: die Macht des Administrators und des Konferenztisches. Der Anzug war im wesentlichen für die Gesten des Sprechens und des abstrakten Kalkulierens gemacht. (Im Unterschied zu früheren Oberklassen-Kostümen, die den Gesten des Reitens, Jagens, Tanzens und Fechtens entsprachen.)

August Sander: Missionare der Evangelischen
Kirche Köln. 1931
Es war der englische Gentleman - ganz im Sinne des neu entstandenen Klischees der demonstrativen Zurückhaltung -, der den Anzug lancierte. Er war ein Kleidungsstück, das kräftige Bewegungen hemmte, ja, das von Bewegung eher zerknittert, verbeult und verdorben wurde. »Pferde schwitzen, Männer transpirieren und Frauen glühen.« Um die Jahrhundertwende, und mehr noch nach dem Ersten Weltkrieg, wurde der Anzug ein Massenprodukt für städtische und ländliche Märkte.

Der materielle Gegensatz ist offensichtlich. Einerseits Körper, die in der Anstrengung völlig heimisch sind, Körper, die an weit ausholende Bewegungen gewöhnt sind; andererseits Kleider, die das Ruhende idealisieren, das Diskrete, das Mühelose. Ich will hier keineswegs für einen Rückgriff auf das traditionelle Bauerngewand plädieren. Jeder derartige Rückgriff muß eskapistisch bleiben, denn solche Gewänder stellten einmal eine Form von Kapital dar, das von Generation zu Generation weitergereicht wurde, und in der Welt von heute, wo jeder Winkel vom Markt beherrscht wird, ist ein solches Prinzip anachronistisch.

Wir können jedoch sehen, wie die traditionelle bäuerliche Arbeits- und Festtagskleidung die besondere Eigenart der Körper, die sie bekleidete, respektierte. Sie war im allgemeinen lose, und eng nur da, wo sie gerafft war, um freiere Bewegungen zu ermöglichen. Sie war das Gegenteil von Herrenanzügen, von Kleidern, die so zugeschnitten sind, daß sie der idealisierten Form eines mehr oder weniger unbeweglichen Körpers folgen und von ihm herunterhängen.

Und doch hat niemand die Bauern dazu gezwungen, diese Kleidungsstücke zu kaufen, und die drei auf ihrem Weg zum Tanz sind offensichtlich stolz auf ihre Anzüge. Sie tragen sie mit einem gewissen Schneid. Dies ist genau der Grund dafür, daß der Anzug vielleicht ein klassisches und leicht zu vermittelndes Beispiel für Klassen-Hegemonie werden könnte.

Dorfbewohner - und, in anderer Weise, städtische Arbeiter - wurden dazu überredet, sich für Anzüge zu entscheiden. Durch Publicity. Durch Bilder. Durch die neuen Massenmedien. Durch Handelsvertreter. Durch Vorbilder. Dadurch, daß sie eine neue Art von Reisenden zu Gesicht bekamen. Und auch durch die politische Entwicklung der allgemeinen Angleichung und der staatlichen Zentralorganisation. Ein Beispiel: Im Jahr 1900, anläßlich der großen Weltausstellung, wurden alle Bürgermeister von Frankreich zum erstenmal zu einem Bankett nach Paris eingeladen. Die meisten von ihnen waren bäuerliche Bürgermeister aus Dorfgemeinschaften. Fast 30 000 kamen! Und natürlich trug die große Mehrheit bei dieser Gelegenheit Anzüge.

Die arbeitenden Klassen - Bauern waren in dieser Beziehung einfacher und naiver als Arbeiter - akzeptierten schließlich bestimmte Normen der herrschenden Klasse als die ihren. Hier waren es die Normen des Chic und des Gutangezogenseins. Aber gerade daß sie diese Normen akzeptierten, daß sie Normen zu entsprechen versuchten, die weder mit ihrem eigenen Erbe noch mit ihrer täglichen Erfahrung das geringste zu tun hatten, gerade das verdammte sie dazu, innerhalb dieses Normsystems stets - und für die ihnen übergeordneten Klassen deutlich erkennbar - zweitklassig, plump, ungeschlacht, defensiv zu sein. Das heißt in der Tat, sich einer kulturellen Hegemonie beugen.

Vielleicht kann man sich trotzdem folgendes vorstellen: Als die drei angekommen waren, ein Bier oder zwei getrunken und die Mädchen (deren Kleider noch nicht so drastisch verändert waren) begutachtet hatten, zogen sie ihre Jacken und ihre Krawatten aus und tanzten, die Hüte vielleicht noch auf dem Kopf, bis zum nächsten Morgen und der Arbeit des nächsten Tages.

Quelle: John Berger: Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens, Berlin, 1989, ISBN 3 8031 1114 5, Seite 36-44

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Reposted on August 18th, 2015

1 Kommentar:

Ананасий Непитин hat gesagt…

thank you again for the completely unknown (maybe just for me) composers.

by the way, you can avoid appearing moire in your scans with ease using this advice:

prior the scanning, put the print (especially colour print) not in parallel with flatbed scanner rims, but rotate it clockwise on 15° and then scan. after doing it, rotate the obtained image in your graphical editor counter-clockwise 15°, and no moire would appear.
this method is derived from a long-time image processing practice at the editorial office. it is caused by the principle of colour separation and angular dots offset on colour plates used in modern computer typesetting process.

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