18. November 2013

Francesco Petrarca: »Süßes Übel, süßes Leid und süße Lust« - eine Auswahl aus den »Canzoniere«

Tristan und Isolde, Siegfried und Krimhild, Abaelard und Héloise sind die großen Paare der mittelalterlichen Dichtung, deren Liebe und Leid uns auch heute noch rühren. Und da gibt es noch Petrarca und Laura.

Der Tristan-Stoff und das Nibelungenlied sind literarische Fiktion, während die schicksalhafte Beziehung zwischen dem Theologen Abaelard und seiner Geliebten Héloise ein reales Verhältnis widerspiegelt, das allerdings Schriftsteller seit je her für ein eigenes Werk angeregt hat.

Bei dem italienischen Dichter und Denker Francesco Petrarca ist es besonders knifflig. Sein Werk steht zwischen Mittelalter, Humanismus und Renaissance. Und bei seiner Gedicht- oder Liedersammlung "Canzoniere" ist bis heute nicht entschieden, ob es die hier besungene Dame "Laura" in Wirklichkeit gegeben hat oder ob nicht alles eine gut inszenierte Fiktion des Autors ist.

Petrarca will nach eigenen Angaben Laura am 6. April 1327 während eines Kirchgangs in Avignon gesehen und sich sogleich in sie unsterblich verliebt haben. Der Name "Laura" lädt zu einigen Assoziationen ein: die "Aura" des Weiblichen; "auratus", also alles, was mit Gold zu tun hat; "Aurora", die Göttin der Morgenröte; schließlich der "poeta laureatus", der lorbeergekrönte Dichter, den Petrarca in ausgezeichneter Weise selbst darstellt.

Gepriesen sei der Tag, der Mond, das Jahr,
die Jahr- und Tageszeit, der Augenblick,
das schöne Land, der Ort, da mein Geschick
sich unterwarf ein schönes Augenpaar.


Diese Danksagung im "Canzoniere", die von Liebe und von Unterwerfung eines "schönen Augenpaars" spricht, ist aber nur der eine Teil der Geschichte. Der andre Teil erzählt ausführlich von höllischer Liebespein, der der Dichter Zeit seines Lebens ausgesetzt war.

Hier sah ich freundlich sie, voll Hochmut hier,
bald schroff, bald weich, erbarmungslos und mild,
der Züchtigkeit und bald der Anmut Bild,
hier sanft, hier stolz, hier grausam wie ein Tier.


Die Liebe, von der Petrarca singt, ist tatsächlich ein grausam-süßes Spiel, bei dem die Geliebte Zeichen der Zuneigung und der Verweigerung, der Hingabe und der Ablehnung, des Einverständnisses und der Unnachgiebigkeit aussendet.

Mit der Ikonographie mittelalterlicher Kunst gesprochen, pendelt die Gestalt von Petrarcas "Laura" zwischen dem "locus amoenus", dem lieblichen Ort, wo die Natur im Kleid des Frühlings und Sommers zum lustvollen Verweilen einlädt, und dem "hortus conclusus", dem verschlossenen Garten, in dem man zu keiner Zeit hineingelangen mag.

Das zweite Bild gehört in den Bereich der Mariendarstellung und somit überhöht Petrarca seine "Laura" ins Himmlische. Falls aber diese "Laura" tatsächlich einer realen Person entspricht, dann könnte sie Laura de Noves gewesen sein, die als verehelichte de Sade zu den Vorfahren des berüchtigten Marquis de Sade zählt. Wie auch immer, als Ehefrau sollte nach irdischem und christlichem Recht ihr schöner Körper - und Laura de Noves war eine schöne Frau! - ein "verschlossener Garten" für alle Männer bleiben, außer eben für ihren Gatten.

Petrarca und Laura
Als heutiger Leser sollte man eines nicht vergessen: Petrarca hat bis knapp vor seinem Tod 1374 an der Form seines "Canzoniere", so wie sie auf uns gekommen ist, gearbeitet. Als "poeta laureatus" und als gebildeter Humanist war sein Sprachideal das Lateinische gewesen. Doch zugleich wusste er genau, dass das durch Bürgerkriege zerrissene und von ausländischen Mächten beherrschte Italien einer Volkssprache bedurfte, die wieder Identität stiften mochte. Deswegen schrieb er wie Dante selbst- und nationalbewusst auf Italienisch. Und die zweisprachige Ausgabe des "Canzoniere" gibt einen schönen Eindruck der lautmalerischen Kraft der Originaltexte wieder, auch wenn wir des Italienischen des 14. Jahrhunderts kaum mächtig sein werden.

Nie lebte so wie ich ein Mensch in Freuden,
nie trauriger bei Tag, in langen Nächten,
so wie mein Schmerz, vermehrt sich meine Weise,
vom Herzen löst sich tränenvoll mein Reim,
wie einst von Hoffnung, leb ich jetzt von Klagen.
Vom Tod errettet einzig mich - der Tod.


Petrarcas Gedichtsammlung "Canzoniere" ist in zwei Teile geteilt: Der erste, umfangreichere behandelt des Dichters Liebe zu Laura, im Wechselspiel der Gefühle. Der zweite spielt nach Lauras Tod. Und wenn der Dichter schreibt "Vom Tod errettet einzig mich - der Tod", so meint er damit, dass durch den Tod der Geliebten er seine Klage erhebt. Und indem er dichterisch klagt, ist nicht nur der trauernde Sänger am Leben, sondern er selbst holt im Gesang seine tote Laura ins Leben zurück.

Ihr Leben, ihren Tod sing ich allein,
mein Dichten schenkte ihr Unsterblichkeit.
Es soll die Welt sie lieben und erkennen.


Ihr Leben und ihr Tod – das ist des Dichters Brot, eine Hostie der Liebe, die er seinen Lesern weiterreicht. Diese Vorstellung findet sich schon in Gottfried von Straßburgs Versepos "Tristan und Isolde". Einerseits bleibt durch die Worte des Dichters die Erinnerung an die Geliebte erinnerlich, soll ewig erinnerlich sein. Andererseits findet so eine Überhöhung der Liebe ins Himmlische statt.

Nicht ohne Grund ruft Petrarca am Ende seines "Canzoniere" die himmlische Liebesmutter - die mater gloriosa - mater dolorosa - an und bittet um "gratia", Gnade. Gnade für eine Liebe, die allerdings so ganz und gar nicht in das Schema christlicher Häuslichkeit passt. Doch irgendwie muss wohl des Dichters Ruf erhört worden sein, denn die Laura-Gedichte haben Petrarca und seine Geliebte unsterblich gemacht.

Quelle: Andreas Puff-Trojan: Canzoniere - Petrarcas Meisterwerk neu übersetzt. ORF, OE1, Sendung vom 25.12.2011

Track 34: Ein Wunder-Engel stieg auf flinken Flügeln


TRACKLIST

Francesco Petrarca

Süßes Übel, süßes Leid und süße Lust

Die schönsten Liebesgedichte
Eine Auswahl aus dem "Canzoniere"

Inhalt 

 1   Ansage                                         
 2   Ihr, die ihr in verstreuten Versen hört        
 3   Es war der Tag, als bleich die Sonne stand     
 4   Am Tag, als rings sich barg der Glanz der Sonnen                                         
 5   Derart verirrt hat sich mein wild Begehren     
 6   Seit Freßgier, Schlaf und Federn, müßig-träge                                          
 7   Nie sah ich Euch bei Sonne oder Schatten       
 8   Bei jedem Schritte wend' ich mich zurücke      
 9   Es zieht dahin der Alt' in Silberhaaren        
10   Es regnen mir die bittern Tränen sachte       
11   Es gibt Geschöpfe auf der Welt                
12   Mich schämend, Herrin                         
13   So viel der Wesen wohnen auf der Erde         
14   Es weinte Amor                                
15   Ein Fräulein sah ich unter grünem Lorbeer     
16   Je näher kommend jenem letzten Tage           
17   Schon schimmerte der Liebesstern              
18   So schwächlich ist der Faden                  
19   Wenn Feuer niemals Feuer überwand             
20   So sehr ich vor der Lüge dich gehütet          
21   Dem Buhlen nicht gefiel Diana besser          
22   Ihren Verliebten höher nicht entzückte        
23   Da Amors Zeichen stand in ihren Mienen        
24   Gepriesen sei der Tag, der Mond, das Jahr     
25   Zwar wußt ich wohl                            
26   Ich zage schon, darüber nachzudenken          
27   Die schönen Augen                             
28   Eh mir nicht beide Schläfen ganz ergrauen   
29   Stets liebt' ich ihn und lieb' und werd' ihn lieben   
30   Ich werde immer jenes Fenster hassen   
31   Zerstreut im Wind die goldnen Locken waren   
32   Schon mehrmals sagte Amor zu mir: Schreibe   
33   Ein seltnes Englein stieg von Himmels Höhen   
34   Ein Wunder-Engel stieg auf flinken Flügeln   
35   Nun, Amor, sieh   
36   Ihr klaren, frischen Wogen   
37   Wenn Liebe nicht, was ist's, das in mir wühlt?   
38   Zum Ziel von Pfeilen macht mich mein Verlangen   
39   Ich sah auf Erden Engelsitte schalten   
40   Die heitre Luft, die einen Weg gefunden   
41   Süß Zorn und Unmut, süß ein friedlich Neigen   
42   Nie war auf seinem Dach so abgeschieden   
43   Die Säule brach, des Lorbeers grüner Bogen   
44   Wann Vöglein klagen, und in grünen Zweigen   
45   Amor ließ ein und zwanzig Jahr' mich zagen   

Gesamtlaufzeit: 51:16

Sprecher: Walter Schmidinger, Angela Winkler

Aus dem Italienischen von Karl Förster, Ernst-Jürgen Dreyer, 
Geraldine Gabor und Karlheinz Stierle.
Auswahl, Einrichtung und Regie: Brigitte Landes
Aufnahme: Bergler Audio, Berlin.
Mischung und Schnitt: Felix Huber
(c) + (p) 2006

Track 37: Wenn Liebe nicht, was ist's, das in mir wühlt?


Raffaels "Madonna Esterházy"



Beobachtungen zu Komposition und Datierung

Raffael, Madonna Esterházy, 1505/06, Tempera und Öl auf Pappelholz, 28,5 x 21,5 cm,
 Museum der bildenden Künste, Budapest.
Raffaels kleine Holztafel einer knieenden Madonna mit Christus- und Johannesknaben gehört zu den Schätzen des Budapester Museums der Bildenden Künste. Mit Ausnahme der umfassenden sammlungsgeschichtlichen Studie von Klára Garas ist das Bild in der jüngeren Vergangenheit meist nur zu Vergleichszwecken herangezogen worden - sei es, um anhand der Ruinen oben links Raffaels Kenntnis antiker Architektur zu diskutieren, sei es, um maltechnische Fragen zu erörtern, die sich aus der Tatsache ergeben, daß das Bild von Raffael nicht ganz vollendet wurde.

Das Bild ist seit seiner ersten Erwähnung im 18. Jahrhundert mit dem Namen Raffaels verbunden: Nach Ausweis eines 1839 noch vorhandenen und von Johann David Passavant zitierten Klebezettels war es ein Geschenk von Papst Clemens XI. (1700-21) an die mit Karl VI. verheiratete Kaiserin Elisabeth Christine (1697-1750). Leider ist über die Umstände dieses wahrhaft fürstlichen Geschenkes nichts bekannt, ebensowenig wie das Gemälde seinen Weg aus kaiserlichem Besitz über die Familie Kaunitz in die Sammlung Esterházy genommen hat. Dort ist es zuerst im Sammlungskatalog 1812 (damals in Laxenburg) nachweisbar; die ganze Sammlung wurde 1814 nach Wien und 1865 nach Budapest gebracht, wo sie fünf Jahre später vom ungarischen Staat gekauft wurde.

Im Jahre 1983 wurde die Madonna Esterházy mit sechs weiteren Bildern aus dem Museum gestohlen und kam beschädigt zurück: abgesehen von einem Ausbruch im nicht bemalten Teil der rechten unteren Kante war die Tafel ungefähr in der Mitte senkrecht auseinandergebrochen, wobei dieser Bruch durch schon vorhandene Wurmgänge noch erleichtert worden war. Abgesehen von diesen beiden schweren Beschädigungen hat die Restaurierung aber auch bestätigt, daß die Madonna Esterházy ein überaus gut erhaltenes Bild ist; die emailleartige harte Oberfläche zeigt nur im Himmel ein ganz feines Craquelée. Vielleicht ist der gute Zustand auch damit zu erklären, daß die Tafel über einen längeren Zeitraum in dem von der Kaiserin genannten Futteral aufbewahrt worden ist.

Raffael, Madonna Esterházy, Zustand nach der Beschädigung
 während des Diebstahls 1983 und vor der Restaurierung.
Die heute einhellig akzeptierte Datierung der Madonna Esterházy in das Jahr 1508 beruht auf der Kombination zweier Beobachtungen: zum einen, daß das Bild nicht ganz vollended wurde und zum anderen, daß das Architekturensemble mit antiken, römischen Ruinen im Hintergrund auf der Vorzeichnung noch fehlt. Daraus ist geschlossen worden, daß Raffael das Gemälde gegen Ende seiner Florentiner Zeit begonnen habe, die antikisierenden Ruinen aber erst nach seiner Übersiedelung nach Rom 1508 gesetzt wurden.

Beim Umzug nach Rom nicht vollendete Bilder Raffaels gibt es in der Tat: der Heiligen Familie Canigiani (München, Alte Pinakothek) fehlen die letzten Lasuren im Inkarnat und bestimmte Himmelspartien, und von der Madonna del Baldacchino (Florenz, Palazzo Pitti) berichtete schon Vasari, daß das weitgehend unvollendete Bild von Ridolfo Ghirlandaio zu Ende gemalt worden sei. Aber abgesehen von Klára Garas' knapper und berechtigter Frage, warum die Madonna Esterházy trotz einer Mitnahme nach Rom immer noch unvollendet sei, kann man das spätere Einfügen der Ruinen durch einige Beobachtungen zu Komposition, Format und Maltechnik ausschließen und das Bild auf 1505 und damit in die erste Hälfte der Florentiner Jahre datieren.

Das kleine Format des Bildes weist zunächst generell in die frühe Zeit, es handelt sich teilweise sogar noch um Aufträge aus Urbino: Die zusammengehörenden Tafeln mit dem Traum des Ritters (London, Nationalgalerie) und den drei Grazien (Chantilly, Musée Condé) messen 17 x 17 cm und werden um 1501 entstanden sein; das Dyptichon aus Hl. Georg und Hl. Michael (Paris, Louvre) wohl im Jahr darauf, die beiden Bilder messen 29,5 x 25,5 cm. Das 1505 entstandene Bild des Hl. Georg in Washington ist gleich groß wie die Madonna Esterházy, und eine weitere der kleinen Tafeln ist die in mehreren Fassungen bekannte Heilige Familie mit dem Lamm, von der hier das 1507 datierte Exemplar des Prado in Madrid abgebildet ist (29 x 21 cm). Die Bilderfindung ist jedoch älter, denn die Erstfassung scheint das ehemals in der Sammlung Viscount Lee of Fareham befindliche Exemplar zu sein, das 1504 datiert ist (32 x 22 cm).

Raffael, Madonna Esterházy, Zustand vor der
Restaurierung [Detail].
Diese Bilder haben aber nicht nur das nach 1506 kaum mehr vorkommende kleine Format gemeinsam, sondern zeigen untereinander weitere Verwandtschaften: so hat der Washingtoner Hl. Georg im Hintergrund den gleichen Turm wie er neben den Ruinen hinter der Madonna Esterházy auftaucht. Die Madonna der Madrider Heiligen Familie ist in ihrem Wesen und bis in die Kleidung eine Schwester der Madonna Esterházy, was das frühe Datum 1504 für die erstere völlig plausibel erscheinen läßt. Auch zeigen beide Bilder, wie Raffael am Anfang der Florentiner Jahre die Bilderfindungen der anderen grossen Meister studierte und sich aneignete: im Falle der Heiligen Familie Leonardo und im Falle der Madonna Esterházy Michelangelo.

In dem Budapester Bild behandelte Raffael das Madonnenthema nicht als "perugineskes" Andachtsbild, sondern erfand eine Handlung, die Mutter, Kind und Johannes den Täufer verbindet: Der am Boden kauernde Johannes liest in der Schriftrolle, das auf einem Erdhügel sitzende Jesuskind wird von der ihm zugewandt knieenden Mutter gehalten und weist deren Aufmerksamkeit auf Johannes, ihr Blick folgt dem Zeigegestus des Sohnes. Dies ist ein geistreiches Spiel mit den Bibelworten "Ecce Agnus Dei" (Johannes I, 19), denn so ist es Jesus, der auf Johannes weist und nicht umgekehrt. Die Kinder betonen durch ihr helles Inkarnat die Ränder der Komposition und werden durch die Haltung der Madonna verbunden, die sich im Sinne einer knieenden "figura serpentinata" beiden zuwendet. Dies geschieht ganz ungekünstelt und als "Erlebnis des Organischen", in dem die abstrakte Geometrie des Mittelalters mit dem neuen Streben nach Natur zusammenfallen."

Bewirkt wird diese Verlebendigung durch die Einführung des kleinen Johannes, der innerhalb der Komposition Gruppenbildungen ermöglicht: Einerseits die Kinder gegen die Frau, andererseits der von der Mutter gehaltene Jesus gegen den einzelnen Johannes, aber durch die Parallelität der Körperhaltungen auch Johannes und Madonna gegen das Jesuskind. Dabei zeigt das Jesuskind die größte gerichtete und aktive Energie, der Johannes eine passive, in sich gekehrte Konzentration und die Madonna schließlich ist zuwendend und fürsorglich gegeben - jede Person zeigt in Haltung und Gestik ihre Individualität.

Raffael, Hl. Familie mit dem Lamm, 1507, Öl auf Holz,
29,1 x 21 cm, Museo del Prado, Madrid.
In der Madonna Esterhazy verband Raffael zwei Themen, die ihn während seiner gesamten Florentiner Zeit beschäftigt haben: zum einen die knieende Figur, besonders der Madonna (und damit der Idee der Madonna dell'Umiltà), und zum anderen der Typus der Madonna in der Landschaft. Natürlich gab es bereits eine reiche Tradition zu beiden Themen; hier soll der Blick nur auf den Lehrer Raffaels gelenkt werden. Wie sich Pietro Perugino diese Themen dachte, zeigt seine Madonna mit Kind in London: in der großformatigeren Mitteltafel seines Altares für die Certosa in Pavia aus der Zeit um 1500 betonte Perugino das Strenge und Hoheitsvolle. Die Figuren befinden sich isoliert nebeneinander in vorderster Ebene, mehr vor als in der Landschaft. Im feierlichen Aufragen der Madonna wird das Knieen als Motiv der Anbetung betont und nicht als Ausdruck von Bewegungsfähigkeit dargestellt. Wie sich dieser Typus verlebendigen ließ, hat Raffael mehrfach in Zeichnungen erprobt, aber auch in der Madonna Esterházy. Die Anordnung der Figuren in vorderer Ebene weist noch auf Pietro Perugino zurück; ebenso wie der Erdhügel, auf dem Jesus sitzt, noch an das sackartige Gebilde bei Perugino erinnert, bis hin zu dem untergelegten Teil des mütterlichen Mantels, der das direkte Sitzen auf dem Boden oder auf einem profanen Gegenstand verhindert.

Daß Raffael bei dieser Verlebendigung Maß hielt und durchaus mit einer gewissen Befangenheit vorging, zeigt ein Blick auf den 1504/5 entstandenen Tondo Doni des Michelangelo, in dem die Bewegungsmotive unvergleichlich kühner und plastischer durchgearbeitet sind. Es ist gelegentlich darauf hingewiesen worden, daß Raffael dieses Bild offenbar intensiv studiert und gleich mehrfach für sich nutzbar gemacht hat: So ist die knieende Haltung des Johannesknaben der Madonna Esterházy eine beruhigtere Variante des Jesusknaben im Tondo Doni. 1504/05 ist damit sicher ein terminus post quem für die Datierung der Budapester Tafel. Die recht wörtliche Übernahme spricht für den frischen Eindruck, den der Tondo hinterlassen haben muß (und deshalb ebenfalls für eine frühe Datierung des Raffael-Bildes), denn später hat Raffael Zitate dieser Art kaum ohne Veränderungen eingesetzt: So ist etwa die Madonna des Tondo Doni Vorbild gewesen für die knieende Frau unten rechts auf der Borghese-Grablegung aus dem Jahre 1506/07 (Rom, Galleria Borghese), die Maria stützt - aber um etwa 90º gedreht.

Pietro Perugino, Madonna mit Kind, 1496-1500, Öl auf Holz,
113 x 64 cm, National Gallery, London.
Das Motiv der knieenden Madonna hat Raffael danach noch in der Heiligen Familie aus dem Hause Canigiani (München, Alte Pinakothek, ca. 1506/07) und der späteren Fassung der Heiligen Familie mit dem Lamm verwendet. In beiden Fällen ist die Drehung des Körpers in den mehrfigurigen Kompositionen aufgegeben worden. Für seine Darstellung der Madonna nur mit den Jesus- und Johannes-Knaben hingegen entwickelte Raffael bereits 1505/06 einen neuen Typus: Die Madonna im Grünen als sitzende Figur. In drei großen Bildern von ähnlichem Format, die alle eine Provenienz bis auf den Erstbesitzer haben, hat Raffael diesen Typus in Variationen durchgespielt: die Madonna dei Cardellino (Florenz, Uffizien, 107 x 77 cm, wohl 1506), die Belle Jardinière (Paris, Louvre, 122 x 80 cm, signiert und datiert auf 1507) und die Madonna im Grünen (Wien, Kunsthistorisches Museum). Diese drei Bilder entwickeln und klären in der Madonna Esterházy angelegte Motive und Ideen in einer Weise, die es kaum vorstellbar erscheinen läßt, daß das Budapester Bild nach den drei Madonnen entstanden sei.

Stellvertretend sei hier die Wiener Madonna im Grünen betrachtet: Sie ist ein Werk von größtmöglicher Ausgewogenheit und abgeklärter Ruhe. Die Madonna sitzt wirklich in und nicht vor der weiten Landschaft, dominiert diese jedoch durch ihren Maßstab und indem Schulterpartie und Kopf über die Horizontlinie geführt sind. In spielerischer Ernsthaftigkeit kniet Johannes vor dem stehenden und von der Mutter nur lose gestützten Jesus, der den ihm dargereichten Kreuzesstab ergreift. Im strikt dreieckigen Aufbau der Figurengruppe nimmt der Kopf des Jesusknaben die Mitte ein, den Spitzen des Dreiecks wird durch die helleren Inkarnatpartien jegliche Schwere genommen. Dementsprechend wichtig ist der rechte Fuß der als "figura serpentinata" sitzenden Madonna: die kompositionelle Notwendigkeit dieses Fußes ist so groß, daß der Betrachter geneigt ist, zu übersehen, daß das zugehörige Bein zu lang geraten ist.

Michelangelo, Hl. Familie mit dem Johannesknaben (Tondo Doni), 1504,
Tempera auf Holz, Dm: 120 cm, Uffizien, Florenz.
Blickt man von der Wiener Madonna im Grünen zurück auf die Madonna Esterházy, so fällt auf, daß wesentliche Kompositionselemente jener in dieser bereits angelegt sind. Es fällt aber auch auf, wo sie noch nicht geklärt sind, wie etwa in der Enge der Figurengruppe zwischen den Felsblöcken; in der anstrengenden Haltung der Madonna, die gleichzeitig kniet und das Kind mit ausgestreckten Armen halten muß; in der Architekturgruppe links, die im Verhältnis zur Distanz, in der sie angenommen werden muß, zu groß und monumental wirkt. Trotz - oder vielleicht gerade - wegen des knappen zeitlichen Abstandes um 1505 zwischen beiden Bildern, verhalten sich die Madonna Esterházy und die Madonna im Grünen zueinander wie ein Versprechen zu seiner Erfüllung. Dieses Verhältnis ist kaum umkehrbar.

Raffaels Vorzeichnung für die Madonna Esterházy hat sich in den Uffizien erhalten. Das fast gleich große Format und das Quadratnetz weisen auf ihre Funktion als Karton hin, auch wenn die Konturen der Darstellung nicht durchstochen wurden wie am Washingtoner St. Georg. Die Figurengruppe wurde aus der Zeichnung fast unverändert übernommen; lediglich der Zeigegestus des Jesus ist deutlicher geworden und die Kinder sind durch eine etwas andere Führung der Mantelfalten der Madonna am Kopf des Jesus und hinter Johannes stärker in den Umriß der Madonna einbezogen. Ganz neu geordnet wurde hingegen der Landschaftshintergrund, und zwar weniger im Charakter als in der Kombination der Elemente. Die neu hinzugekommenen antikisierenden Ruinen links sind jedoch nicht einfach nur eingefügt worden, sondern es kam ihretwegen zu zwei wesentlichen Änderungen. Zum einen wurde die Horizontlinie gesenkt: In der Zeichnung war das Verhältnis von Himmel zu Landschaft noch ungefähr eins zu drei gewesen, in der Ausführung ist es etwa eins zu zweieinhalb, wodurch der Kopf der Madonna über dem Horizont freigestellt erscheint und auch von den Ruinen nicht überragt wird.

Zum anderen ist das Format des Bildes auf dem Weg vom Karton zur Ausführung verändert worden: der Karton ist bei gleicher Höhe 19,1 cm breit und Raffael hat die Komposition auf allen Seiten durch einen geraden Strich begrenzt. Da der Platz links vom Kopf der Madonna für die Ruinen nicht ausgereicht hätte, wurde das Format des Bildes nach links um etwa 2 cm erweitert - damit ist aber ein späteres Einfügen der Ruinen ausgeschlossen, denn die Vergrößerung des Formates muß bei Wahl der Holztafel, spätestens jedoch bei deren Grundierung, festgestanden sein. Auch auf der Holztafel selbst ist die Komposition zunächst links und rechts durch gerade Linien begrenzt worden, und an dem ausgerahmten Bild kann man an der Überzeichnung links bei den Ruinen sehen, daß der Platz an dieser Stelle trotz Vergrößerung des Formates immer noch knapp war. Interessanterweise kommt die vergrößerte Tafel dem Proportionsschema un quadro e diametro viel näher als die Vorzeichnung.

Raffael, Madonna im Grünen, 1505 od. 06, Öl auf Holz,
113 x 88 cm, Kunsthistorisches Museum, Wien.
Angesichts der Manipulationen, die nötig waren, um diese Ruinengruppe unterzubringen, stellt sich nicht nur die Frage nach deren Bedeutung, sondern auch die Frage, warum Raffael sie nicht rechts vom Kopf der Madonna malte. Dort wäre Platz gewesen und bereits die Vorzeichnung zeigt an dieser Stelle Architektur, darunter auch einen hohen Turm mit flachem Abschluß und daraus ragender "Nase", der dem dann ausgeführten Turm ganz rechts in der Ruinengruppe durchaus verwandt ist. Die Senkung des Horizontes gibt zur Beantwortung der zweiten Frage einen Hinweis: Raffael wollte offensichtlich den Kopf der Madonna "über die Welt" erhoben sein lassen, wie er dann auch in den bald darauf gemalten drei großen Madonnen im Grünen und der Hl. Katharina (London, Nationalgalerie) den Horizont sogar noch unter die Schulterpartie der Madonna bzw. der Heiligen legte. Eine rechts hinreichend tiefer gemalte Ruinengruppe aber wäre dem Christuskind zu nahe gekommen und hätte in Komposition (gedrängte Formen) und Kolorit (ähnliche Farbe von Marmor und Inkarnat) zu einem unausgewogeneren Bild geführt.

Die erste Frage nach der Bedeutung der Ruinengruppe ist schwerer zu beantworten. John Shearman hat darauf hingewiesen, daß es sich hier nicht um malerische Erfindung, sondern um eine umgruppierte und nur teilweise korrekte Wiedergabe einer Ecke des Forum Nervae mit dem Turm des Convento dei Basiliani darüber handle. Das Forum Nervae wurde 92 n. Chr. unter Domitian begonnen und stellt die Verbindung (daher auch Forum Transitorium) zwischen dem östlich davon gelegenem Templum Pacis und den Fora Augusti bzw. Julium im Westen her. Die südliche Schmalseite stößt an die Basilica Emilia und das Nordende wird vom Tempel der Minerva eingenommen - das Forum Nervae war also ein rundum eingebauter Raum, in dessen Fragmenten sich mittelalterliche Architektur eingenistet hatte. Wie ein Vergleich mit den etwa dreißig Jahre später entstandenen Zeichnungen von Marten van Heemskerk zeigt, sind die Ähnlichkeiten aber sehr vage.

Raffael, Madonna Esterházy, 1505/06, Feder über schwarzer Kreide
und Griffel auf Papier, 285 x 191 mm, Uffizien, Florenz.
Heemskerks Zeichnung mit dem Forum Nervae in der Distanz entspricht etwa der Verwendung im Hintergrund der Madonna und zeigt vor allem, wie unbedeutend die Ruinen im Verhältnis zu den mittelalterlichen Bauten in der Fernsicht werden. Das vordere antike Architekturfragment in der Madonna Esterházy mit den drei Säulen mag an die Reste des Minerva-Tempels erinnern, wie sie Heemskerk in der Nahsicht gezeichnet hat, und bei der Säulenstellung dahinter erinnern das hohe Gebälk und die hohe Attika in der Tat an das Forum Nervae. Aber gerade die bei Heemskerk gut sichtbare und charakteristische kräftige Verkröpfung über den frei vor der Wand stehenden Säulen der Platz-Längswände fehlt. Eindeutig ist der Turm rechts bestimmbar, bei dem es sich um die aus dem 13. Jahrhundert stammende Torre delle Milizie handelt. Diesen Bau hat er schon im Hintergrund des Washingtoner St. Georgs-Bildes und dem dazugehörigen Karton verwendet.

Zum Abschluß dieser Erörterung der Architekturen bleibt festzuhalten, daß die antikisierenden Ruinen nicht wirklich eindeutig zu bestimmen sind. Wenn es dafür Vorlagen gegeben hat, sind sie von Raffael solange umgearbeitet und umgruppiert worden, bis sie seinen Bildabsichten entsprachen. Die identifizierbare Torre delle Milizie hingegen zeigt, daß Raffael eine bestimmte Architektur geben konnte, wenn er wollte. Dieses kleine Architektur-Capriccio im Hintergrund der Madonna Esterházy soll antikes wie mittelalterliches Rom in Erinnerung bringen, ohne als Vedute gemeint zu sein. Der etwa zweiundzwanzigjährige Raffael führte damit zwar seine Bildung und Kenntnisse vor; es ist aber sehr viel wahrscheinlicher, daß die Entscheidung für jenes römische Capriccio gar nicht auf ihn selbst, sondern auf den leider unbekannten Florentiner Auftraggeber der Tafel zurückging. Es ist durchaus vorstellbar, daß die Vorzeichnung in Florenz nicht nur als Karton gedient hat, sondern auch im Sinne einer Visierung dem Besteller vorlag und nach dessen Wünschen einer Rom-Anspielung die Neuordnung jener Landschaft und die Vergrößerung des Bildformates veranlaßten. Für ein derartig summarisches Capriccio muß eine genauere Kenntnis über die Stadt Rom seitens des Künstlers nicht angenommen werden. […]

Marten van Heemskerk, Forum Nervae in der Distanz, 1534/35, Feder auf
 Papier, 135 x 208 mm, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin
 - Preußischer Kulturbesitz.
Obwohl Raffael seine Madonna Esterházy nicht ganz vollendete, wirkt das kleine Bild auf den ersten Blick dennoch nicht 'unfertig', da die einzelnen Partien und Malschichten etwa gleichzeitig miteinander aufgebaut wurden. Hier zeigt Raffael eine andere Arbeitsmethode als Michelangelo, in dessen Grablegung in London (National Gallery) vollendete Partien direkt neben nicht einmal begonnenen stehen geblieben sind. In die einheitlich und in einem Zug gemalte Tafel kann auch von maltechnischer Seite das Rom-Capriccio nicht später eingefügt worden sein.

Am weitesten unvollendet sind die Inkarnate: die Fertigstellung dieser ohnehin sensiblen, nicht leicht zu korrigierenden und für die Gesamterscheinung des Bildes entscheidenden Partien hat Raffael bis zum Schluß aufgehoben. So sieht man am Kopf der Madonna die gestrichelte bräunliche Unterzeichnung für die Verschattungen und bei den Kindern liegt zartes Gelb in der Untermalung bloß, während im Gesicht der Madonna bereits zarte Rosatöne eingesetzt sind. Mantel und Gewand der Madonna sind in den Falten und Farben am weitesten ausgearbeitet. Die Landschaft ist in Braun- und Olivtönen angelegt, aber so noch ziemlich kahl, besonders im Vorder- und Mittelgrund wäre mehr Vegetation zu erwarten. Die Bergzüge des Horizontes sind hingegen fertig. Der in der Vorzeichnung von Johannes gehaltene Kreuzesstab ist im Bild noch nicht eingefügt, die Handhaltung dafür aber bereits gegeben.

Was noch fehlt, kann ein Vergleich mit der Heiligen Familie mit dem Lamm oder mit der Madonna im Grünen veranschaulichen: ein generelles Tiefer-Stimmen aller Farbtöne und die Vertiefung der Schatten, die Differenzierung der Landschaft, die Haare der Kinder und ornamentale Details wie die Goldkanten und -borten an den Kleidersäumen.

Marten van Heemskerk, Forum Nervae in der Nahsicht, 1534/35, Feder auf
 Papier, 210 x 288 mm, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin
- Preußischer Kulturbesitz.
Es konnte gezeigt werden, daß die bisher akzeptierte Datierung der Madonna Esterházy in das Jahr 1508 auf falschen Annahmen beruhte. Damit war der Weg frei, erneut über den stilistischen Ort dieses Bildes nachzudenken, der am Anfang der Florentiner Zeit im Jahre 1505 anzusetzen ist: Nach Kenntnis von Michelangelos Hl. Familie mit dem Johannesknaben (Tondo Doni) und vor Raffaels drei Madonnen im Grünen.

Besonders merkwürdig ist unter diesen Bedingungen allerdings der unvollendete Zustand, denn Raffael sollte vor der Übersiedelung nach Rom ausreichend Zeit gehabt haben, die noch fehlenden wenigen Farbschichten aufzutragen. Hier kann vorerst nur spekuliert werden. Man könnte sich Umstände denken, in denen Raffael der unbekannte Auftraggeber abhanden kam, oder Umstände, in denen sich die Auslieferung des Bildes verzögerte. Es könnte aber auch sein, daß sich die Vollendung der Madonna Esterházy mit dem Beginn der Madonna im Grünen überschnitt und Raffael auf der Höhe einer neuen Stufe seiner "Klassischen Kunst" an einer Vorstufe dazu keinen Gefallen mehr fand.

Quelle: Jarl Kremeier: Raffaels "Madonna Esterházy". Beobachtungen zu Komposition und Datierung. In: Belvedere. Zeitschrift für bildende Kunst. Heft 2/1998, ISNN 1025-2223, Seite 36-47 (geringfügig gekürzt)

JARL KREMEIER wurde 1996 mit einer Dissertation zur Planung und Baugeschichte der Hofkirche in der Würzburger Residenz promoviert. Sein Forschungsschwerpunkt liegt im europäischen Barock des 18. Jahrhunderts, dabei im speziellen in der englischen Kunst.



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