Ob Wolfgang Amadeus Mozart ein "Weltgeiger" war, ist aus heutiger Sicht kaum objektiv zu beurteilen. Sein Vater Leopold, der immerhin einer der bedeutendsten Violinpädagogen des 18. Jahrhunderts war und seinem Sprößling schon im zartesten Knabenalter die Geigentöne beibrachte, hielt jedenfalls große Stücke auf das Virtuosentalent des Juniors:
… du weißt selbst nicht wie gut du Violin spielst, wenn du nur dir Ehre geben und mit Figur, Herzhaftigkeit und Geist spielen willst, ja so, als wärest du der erste Violinspieler in Europa.
Solch anerkennende und mahnende Worte schrieb der Ältere im Oktober 1777 an den Jüngeren, der damals gerade in Augsburg weilte. Damals freilich hatte Mozarts Interesse an der Geige bereits nachgelassen. Zwar legte er nach wie vor "bei Abspielung" seiner "letzten Caßationen" soviel Können an den Tag, daß offenbar stets "alle groß darein geschauet" haben; gleichwohl wandte sich Mozart verstärkt seinem Lieblingsinstrument – dem Klavier – zu.
Zwei Jahre zuvor hatte er sich freilich noch in hochfürstlich salzburgischen Diensten als Konzertmeister verdingt. Der anspruchsvolle Erzbischof hätte ihn gewiß nicht in dieser Position akzeptiert, wenn er ein eher mittelmäßiger Geiger gewesen wäre. Als Mitarbeiter der Kirche schuf Mozart in einem bemerkenswert kurzen Zeitraum – nämlich zwischen April und Dezember 1775 die berühmte Fünfzahl seiner populären Violinkonzerte.
Mag sein, daß derlei Arbeiten in seinem Amt ganz einfach erwartet wurden; vielleicht plante er auch, als Solist in eigener Sache auf Tournee zu gehen. Unbestreitbar ist jedenfalls: Die fünf Werke mit den Köchel Nummern 207, 211, 216, 218 und 219 verraten einerseits eine genaue Kenntnis älterer Vorbilder (etwa von Tartini, Locatelli, Nardini oder Borghi); andererseits sprechen sie eine neuartige Sprache. Jedes von ihnen gibt sich als Mitglied derselben Familie zu erkennen und beweist zugleich einen höchst selbständigen, individuellen Charakter.
Die Vier Jahreszeiten, 1988 |
Auf die Nacht beim Soupee [19. 0ktober 1777] spielte ich das straßburger=Concert. Es gieng wie Öhl.
Die Bezeichnung "Straßburger Konzert" hat unter den Mozart Forschern einige Verwirrung gestiftet. Man erklärt den Namen heute mit einem musetteartigen Thema im Rondo, das an den "Ballo Strasburghese" aus der Karnevals Sinfonie von Karl Ditters von Dittersdorf erinnert und wohl auf eine Volksweise zurückgeht.
Schon der Beginn des Kopfsatzes bringt zwei Überraschungen, an denen dieses Konzert so reich ist: Verblüffend wirkt die hohe Lage des Soloparts, der durchweg auf subtile Weise mit dem Orchestersatz verschmilzt. Und gleichfalls mit Erstaunen nimmt man zur Kenntnis, daß die marschmäßig intonierte Fanfare des Beginns nirgends wieder aufgegriffen wird – für Mozarts Zeit ein kühner Bruch mit formalen Regeln.
Den ruhenden Pol und damit eine Art geistiges Zentrum der Komposition bildet der Mittelsatz, der formal einem Sonatenhauptsatz mit zwei Themen (aber ohne Durchführung) ähnelt. Hier singt die Solovioline einen unausgesetzten Gesang – "ein Geständnis der Liebe", wie Alfred Einstein es formulierte.
Das abschließende Rondo trägt gleichermaßen französische wie italienische Züge und ist ganz nach dem Kontrastprinzip gebaut. Daß Mozart Humor besaß – wer wollte es angesichts dieses Satzes bestreiten? Das Konzert als ganzes steht übrigens in einem auffallenden Verwandtschaftsverhältnis zu einem um zehn Jahre älteren Stück von Boccherini. Aber die Wege der Musikforschung sind unergründlich: Manche Wissenschaftler argwöhnen, daß Boccherinis angebliches Konzert eine spätere, nach dem Vorbild von Mozarts D-Dur-Konzert gearbeitete Fälschung sei.
Quelle: Wolfgang Lempfrid, KölnKlavier
Papagena, 1988 |
Wolfgang Amadeus Mozart: Violinkonzert A-Dur, KV 219
Schlussendlich hatte Mozart genug vom Geigen. Im September 1778, als die Rückreise von Paris nach Salzburg bevorstand und die Fron der heimatlichen Hofmusik ihren bedrohlichen Schatten vorauswarf, schrieb er an den Vater: “Nur eines bitte ich mir zu Salzburg aus, und das ist: dass ich nicht bey der Violin bin, wie ich sonst war. Keinen Geiger gebe ich nicht mehr ab; beym Clavier will ich dirigieren.” Es war der Schluss-Strich unter die große Zeit des Geigers Mozart.
Sie hatte im August 1772 mit der Ernennung zum “besoldeten” Konzertmeister der Salzburger Hofkapelle begonnen. Der neue Fürsterzbischof Hieronymus von Colloredo wies dem strahlenden Stern am Salzburger Musikhimmel einen festen Platz am höfischen Firmament zu - einen Platz, an dem Mozart zwar gebührend leuchten, aber nicht über Gebühr strahlen konnte. Denn für seine eigentliche Doppelbegabung als Klaviervirtuose und Opernkomponist hatte der Erzbischof vorerst keine Verwendung. Mozarts wahre Berufung sollte sich erst unter den Auspizien der Mannheim-Paris-Reise fünf Jahre später immer mehr in den Vordergrund schieben. Endpunkt dieser Entwicklung war der zitierte Brief aus Paris vom 11. September 1778. Dieser Bruch in der Biographie erklärt, warum Mozart alle seine fünf Violinkonzerte vor 1777 komponiert hat, genauer: in den Jahren 1773 und 1775. Es waren die großen Jahre, in denen er sich selbst als Geiger sah - fast gleichberechtigt neben seinem Klavierspiel.
Kaum eine Akademie bei Hofe, ohne dass er sich mit einem seiner Violinkonzerte oder im Solo einer Orchesterserenade präsentiert hätte. Leider haben wir von diesen Auftritten im heimatlichen Salzburg keine authentischen Zeugnisse, wohl aber von geigerischen Höhenflügen andernorts. Aus München berichtete Mozart im Oktober 1777 dem Vater: “Zu guter Letzt spielte ich die letzte Cassation aus dem B von mir. Da schaute alles groß drein. Ich spielte, als wenn ich der größte Geiger in ganz Europa wäre.” Der Vater verfolgte diese Auftritte aus der Ferne mit Begeisterung und ermunterte den Sohn: “Du weißt selbst nicht, wie gut du Violin spielst, wenn du nur dir Ehre geben und mit Figur, Herzhaftigkeit und Geist spielen willst, ja so, als wärest du der erste Violinspieler in Europa … O wie manchmal wirst du einen Violinspieler, der hoch geschätzt wird, hören, mit dem du Mitleiden haben wirst!”
Der Wirsingtechnologe, 1978 |
Der Beginn des ersten Satzes strahlt eine geradezu elektrisierende Spannung aus: Erwartungsvoll aufsteigende A-Dur-Dreiklänge werden von prickelndem Tremolo grundiert und von herrischen Einwürfen unterbrochen. Später wird der Solist über diesem spannungsvollen Klanggrund sein jubelndes Thema in hoher Lage anstimmen, das sogleich durch Passagen und große Sprünge angemessen brillant daherkommt. Dennoch ist der Satz auch reich an weichen, gesanglichen Episoden. Die schönste von ihnen spielt die Solovioline gleich bei ihrem ersten Einsatz. Statt das kraftvolle Allegro des Orchesters aufzugreifen, lehnt sie sich entspannt zurück und spielt ein Adagio, das wie die zärtliche Arie einer Primadonna wirkt, untermalt von “flüsternden” Terzen der Tuttigeigen. Die zauberhafte Stelle kommt leider nur einmal - ein Theatercoup des geborenen Opernkomponisten Mozart mitten in einem Violinkonzert.
Das folgende Adagio steht in der bei Mozart seltenen Tonart E-Dur und wird völlig von den Seufzerfiguren des ersten Taktes beherrscht, die sich wie ein Band durch den ganzen Satz ziehen. Der Mittelteil wagt sich weit in Mollregionen vor. Für ein Salzburger Violinkonzert war dieses Adagio eigentlich “zu studiert”, wie es der spätere Konzertmeister Brunetti ausdrückte.
Umso unbeschwerter gibt sich das Rondo, zunächst als Menuett. Die Solovioline intoniert das berühmte Thema, das sich im Schlagabtausch mit dem Orchester immer schwungvoller entfaltet. Dann aber macht der Tanz einer romantisch-nächtlichen Episode in a-Moll Platz, die sich alsbald in einen drastischen “Türkischen Marsch” verwandelt, voller fremdartiger Harmonien und krasser Akzente. Die tiefen Streicher missbrauchen ihre Celli und Kontrabässe als Schlagwerk. Der Einschub entfaltet eine angemessen “barbarische” Wirkung, um das Menuett bei seiner Rückkehr noch höfischer und eleganter erscheinen zu lassen. Am Ende macht es sich auf leisen Sohlen davon - ein Mozartscher Scherz. Die türkische Episode dieses Finales übernahm Mozart wirklich aus einer Ballettmusik im türkischen Stil, “Le gelosie del Seraglio”, “Die Eifersüchteleien im Serail”, die er für seine letzte Mailänder Oper “Lucio Silla” skizziert, aber nicht ausgeführt hatte. So fand echte Ballettmusik Eingang in sein schönstes Violinkonzert.
Quelle: Kammermusikführer der Villa Musica Rheinland-Pfalz
Der Schneck, 1988 |
Felix Mendelssohn: Violinkonzert e-Moll, op. 64
Mit Zeichenbuch und Notenpapier “bewaffnet”, mit einem Strohhut auf dem Kopf und in entspanntester Laune konnte man Felix Mendelssohn in den 1840er Jahren nur an einem Ort beobachten: in Bad Soden am Taunus. Seit der viel beschäftigte Dirigent und Komponist aus dem Norden die schöne Frankfurterin Cécile Jeanrenaud geheiratet hatte, zog es ihn immer wieder in die Bürgerstadt am Main und ihre lieblichen Umgebung, die sich bis in die sanften Hügel des Vordertaunus erstreckt. Bad Soden war seit der Anlage des Kurparks 1821 auf dem besten Wege, sich in einen Treffpunkt der feinen Welt zu verwandeln, und auch die Familie Mendelssohn bewohnte hier 1844/45 eine Sommervilla in der Königsteiner Straße. Von ihr aus konnte der Komponist mit Gattin und Kindern ungestört die Wanderwege zum Taunus erkunden und die wunderschönen Ausblicke genießen, insbesondere den berühmten bei den “Drei Linden” in Neuenhain, wo später auch Tschaïkowsky und Wagner im sanften Anblick der Taunuslandschaft schwelgten. Hier entwarf und vollendete Mendelssohn im Sommer 1844 sein Violinkonzert – man wäre geneigt, den schwärmerischen Zug des Werkes unmittelbar in die Landschaft hineinzuprojizieren, wäre Bad Soden heute nicht nurmehr ein nobler Vorort von Frankfurt, unweit des Rhein-Main-Flughafens gelegen und entsprechend bedrängt vom Flug- und Straßenlärm. Damals trübten keine Bausünde und keine Autobahn die Idylle, wie uns Mendelssohns e-Moll-Konzert eindrucksvoll vor Ohren führt.
Das Werk ist ein Liebling des Publikums wie der Virtuosen. Darüber vergisst man leicht, wie viel Neuerungen Mendelssohn in dieses eine Stück hineinlegte, etwa die Position der Solokadenz mitten im ersten Satz, sowie die Anlage dieses Geigensolos, das wie eine auf vier Saiten reduzierte Orchesterdurchführung wirkt. Dass alle drei Sätze ineinander übergehen, ist ebenso originell wie der unprätentiöse Einstieg. Die Violine beginnt ohne langes Orchestervorspiel gleich mit dem Hauptthema, dessen schwärmerische Linie Mendelssohn offenbar so lange im Kopf herum gespukt hatte, bis er das Konzert endlich ausarbeitete. Im Hauptthema liegt der Kern des Ganzen. Dies spürt man auch später noch, in der harmonisch gewagten Überleitung vom Kopfsatz in den langsamen Satz und besonders in der Überleitung zum Finale. Dessen elfenhaft flirrendes und schwirrendes Hauptthema wandert von der Violine munter ins Orchester und zurück und entzündet dabei ein wahres Feuerwerk an Instrumentationseffekten.
Quelle: Kammermusikführer der Villa Musica Rheinland-Pfalz
Der König (Schach), 1988 |
Track 9: Mendelssohn: Violinkonzert op. 64 - III. Allegretto non troppo - Allegro molto vivace
TRACKLIST Mozart - Mendelssohn: Violin Concertos Jascha Heifetz, Violin Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) Violin Concerto N°4 in D major, K. 218 [21:31] 01. 1. Allegro [08:05] 02. 2. Andante cantabile [06:43] 03. 1. Rondeau: Andante grazioso - Allegro ma non troppo [06:47] (Cadenzas by Heifetz) Thomas Beecham; Royal Philharmonic Orchestra Recorded on 10th November, 1947 in EMI Abbey Road Studio No. 1 Violin Concerto N°5 « Turkish » in A major, K. 219 [27:30] 04. 1. Allegro [09:55] 05. 2. Adagio [10:50] 06. 3. Rondeau: Tempo di menuetto [06:44] (Cadenzas by Joseph Joachim) John Barbarolli; London Philharmonic Orchestra Recorded on 23rd February, 1934 in EMI Abbey Road Studio No. 1 Felix Mendelssohn (1809-1847) Violin Concerto in E minor. Op. 64 [24:24] 07. 1. Allegro molto appassionato [11:00] 08. 2. Andante [07:24] 09. 3. Allegretto non troppo - Allegro molto vivace [05:54] Thomas Beecham; Royal Philharmonic Orchestra Recorded on 10th June, 1949 in EMI Abbey Road Studio No. 1 Playing Time: [73:27] Producer and Audio Restoration Engineer: Mark Obert-Thorn (C)+(P) 2000
Fritz von Herzmanovsky-Orlando
Maskenspiel der Genien
Kapitel I
Selbstbildnis |
Nicht geringe Schuld an diesem beklagenswerten Zustand tragen die internationalen Fahrplankonferenzen, die es zustande bringen, daß bedeutende Schnellzugslinien, deren Expresse unter Pomp, Gestank und Donner von irgendeiner Grenzstation abgelassen werden, im Innern Österreichs schon nach kurzer Frist spurlos versickern, nachdem sie irgendwann auf der Strecke durch einen rätselhaften Abschuppungsprozeß den Speisewagen verloren haben. Meistens geschieht das in der Gegend von Leoben, diesem Gewitterwinkel des europäischen Reiseverkehrs. »Leoben … ja, Leoben! Ein Zug, der was da drüberkummt, der is aus’n Wasser!« Dies die ständige Redensart der großen österreichischen Eisenbahnfachleute (indessen die Anteilnahme der übrigen Chargen am Bahnbetrieb hauptsächlich darin besteht, mit Kind und Kegel, umsonst oder um hohnvoll kleine Beträge, in der Luxusklasse der Netze spazierenzufahren). Mehr als einmal habe ich es erlebt, daß alte, erfahrene Stationschefs einem aus Leoben ausfahrenden Expreß lange kopfschüttelnd nachschauen, wobei sie wohl auch ein kaum hörbares »Wieder einer …!« vor sich hin murmeln. Dann gehen sie ins Dienstzimmer zurück, stellen die Telegraphenleitung ab, werfen sich seufzend aufs schwarzlederne Sofa und stöhnen noch lange: »jo … jo, jo … jo«, ehe sie in traumgequälten Schlummer versinken.
Unter solchen Umständen ist es kein Wunder, man weiß im allgemeinen nur wenig von jenem eigentümlichen Staatengebilde, welches knapp nach dem Laibacher Kongreß von 1821 ins Leben trat und sich seither immer weiterfrißt, unmerklich und unaufhaltsam, bis es eines hoffentlich nicht allzu fernen Tags die Welt erobert haben wird.
Verschiedene Herrschaften, 1986 |
Am Laibacher Kongreß war vernünftigerweise beschlossen worden, zwischen die deutschen, slawischen und romanischen Gebiete im Südosten Europas einen Pufferstaat zu legen, das »Burgund der Levante«, wie einige es poetisch benannten, und sie hatten so unrecht nicht. Denn gerade Burgund hängt innig mit dem Osten zusammen, gerade Burgund hatte das ganze Mittelalter hindurch nach der Herrschaft über die Levante gestrebt und hatte im Verlauf der Kreuzzüge nicht nur Griechenland, sondern dazu noch Teile Vorderasiens erobert, wo es das Königreich Jerusalem und die Fürstentümer Edessa, Tripolis und Antiochia gründete. In Griechenland zählten Athen, Elis, Achaia und Korinth zu den stolzesten burgundischen Eroberungen. Nirgends herrschte solcher Glanz wie an diesen Höfen, und besonders Achaia war lange Zeit das Vorbild allen höfischen Lebens und eine Hochburg des Minnesangs.
Daß der neuzugründende Pufferstaat eine streng monarchische Konstitution bekommen mußte, erklärte sich ohne weiteres aus der Epoche seiner Entstehung. Kopfzerbrechen gab es nur über die Frage der Dynastie, denn es kamen mehrere Häuser in Betracht. Dem großen Bayernkönig Ludwig zum Beispiel lag der Orientkenner Fallmerayer unaufhörlich in den Ohren, beschwor ihn, alte Anrechte geltend zu machen, und pinselte Sr. Majestät in glühenden Farben ein Kaisertum Kärnthen vor Augen. Zum Glück brach bald darauf der von England zur Ablenkung arrangierte griechische Freiheitskampf aus, und die im Londoner Nebel gebrauten Machenschaften leiteten die wittelsbachische Gefahr nach Hellas um. Jetzt schien dem Hause Coburg der neue Thron gewiß. Aber da raunzte Kaiser Franz und wollte dort eine Quartogenitur der Habsburger errichten, was wiederum die anderen Herrscherfamilien lebhaft zu verschnupfen begann. Endlich, als das europäische Gleichgewicht schon so weit verschleimt war, daß man wie einen dumpfen Husten die Säbel rasseln hörte, ließ Metternich seinen Geist leuchten. Die von ihm gefundene Lösung war einfach, war so dynastisch wie möglich und war zugleich so durch und durch dem tiefsten Volksempfinden, ja den Idealen des kommenden Jahres 1848 angepaßt, daß wir wieder einmal mit ehrfürchtigem Staunen den kühnen Gedankenflug dieses bedeutenden Staatsmannes bewundern müssen: er schuf das Reich der Tarocke, von Nörglern, denen nie etwas recht ist, auch das »Spiegelreich des linken Weges« geheißen.
Saturn, 1991 |
Grundlage für die Wahl der Landesväter war das Sogenannte »Normaltarockspiel«, das in der Hauptstadt des Landes aufbewahrt wurde — vergleichbar dem »Urmeter« zu Paris, dieser Stadt der gockelhaft aufgeblasenen Symbole. Das Kartenpaket wurde Tag und Nacht von einer Nobelgarde bewacht und alle vierzehn Tage durch Gelehrte von Weltruf gemischt und kontrolliert. Die vier Männer, die man alljährlich zu Monarchen machte, mußten lediglich die eine Bedingung erfüllen, den Königen des Normaltarockspiels möglichst ähnlich zu sehen. Durch dieses Wahlsystem war jedem Schwindel und jeder Korruption der Weg abgeschnitten. Männer aller Stände, ohne Ansehen von Bildung, Abkunft und sogar Sittsamkeit, gelangten solcherart zur erhabensten Würde — ein Vorgang, wie ihn nur noch das Papsttum für sich in Anspruch nehmen darf.
Der mächtigste Mann im Reich war der »Sküs«, benannt nach der höchstwertigen, wenngleich ein wenig harlekinartig kostümierten Figur des Kartenspiels. (Doch wurde von dieser unbedeutenden Äußerlichkeit die erhabene Würde seiner Stellung nicht in Mitleidenschaft gezogen; große Staatsmänner wirken nach außenhin immer ein wenig komisch). Der Sküs also lenkte die Staatsgeschäfte mit diktatorialer Gewalt, schüttelte unaufhörlich neue Gesetze aus dem Ärmel und tat mindestens einmal in der Woche irgend etwas Umwälzendes. Ihm zunächst an Rang und Ansehen stand der »Mond«, seinem Ziffernwert nach ein Einundzwanziger, was ihn in den Augen vordergründiger Tarockspieler lediglich dazu befähigt, die zwanzig übrigen Tarocke zu stechen; davon, daß diese Figur den einundzwanzigsten Grad einer höchst mystischen Freimaurerei bekleidet, weiß man am Stammtisch natürlich nichts. An dritter Stelle rangierte der »Pagat«, der als Finanzminister eine sehr wichtige Stimme hatte. Alle drei zusammen bildeten die »Trull«, ein niemals zu stürzendes Kabinett.
Der Pressezar, 1986 |
Um hier nur eine Kleinigkeit ins Treffen zu führen: noch kein normaler Mensch, einschließlich der geborenen Venetianer, hat sich in Venedig jemals ausgekannt. Ich selbst, der ich dort jahrelang das Gymnasium besuchte, habe zum väterlichen Palazzo, obwohl er keine drei Minuten vom Markusplatz entfernt lag, nur mit Mühe und manchmal erst nach stundenlangem Suchen heimgefunden. Wie oft erschien ein Professor nicht zum Unterricht, weil er sich verirrt hatte! Wie oft traf ich meine Mutter mit einer störrisch schluchzenden Magd — sie hatten beim Einkaufen den Weg verloren! Oder ich sah irgendwo meinen Vater, düster zu Boden blickend, am ergrauten Schnurrbart kauend und bisweilen heftig mit dem Stock gegen das Pflaster stoßend. »Geh nur nach Hause, mein Kind«‚ pflegte er mir auf meine besorgten Erkundigungen zu antworten. »Ich lasse Mama grüßen, und sie möchte die Suppe auftragen lassen. In längstens fünf Minuten bin ich da.« Aber nicht selten wurde es Abend, ja tiefe Nacht, ehe der übermüdete Mann sich endlich zur Mittagstafel setzen konnte.
Der Spielmann, 1989 |
Damit dürfte auch das auffallend rege Straßenleben der im Grunde nur wenig bevölkerten Stadt endlich eine Erklärung gefunden haben: es kommt von den vielen Verirrten.
***
Als Metternich die eisenfesten Grundzüge der tarockanischen Konstitution für die Ewigkeit verankert und somit dem nordischen Ordnungsgeist Genüge getan hatte, tauchte die Frage auf, was mit den Südprovinzen geschehen solle und wie dort wohl die nötige Zufriedenheit zu schaffen sei, damit das unter der Asche glimmende Feuer der neuen nationalen Bewegungen nicht als lodernde Flamme emporschlage. Nach langem Grübeln kam dem genialen Staatsmann der rettende Gedanke: man mußte ein uraltes, zutiefst poetisches Volksideal zur politischen Realität machen, mußte das geheimnisvolle Maskenreich verwirklichen, die wahre Lebensform des Südens, die bisher nur in den Figuren der Commedia dell’arte zu traumhaftem Dasein erwacht war.
Der Trompetenreiter |
Sie alle gelangten in Tarockanien alsbald zu hohen gesellschaftlichen Würden und wichtigen Ämtern. In stilvoller Maskerade beherrschten und regulierten sie das öffentliche Leben. Immer wirbelten sie bunt durcheinander, unkomplimentierten sich aufs feierlichste, ohne das geringste zu arbeiten und ohne etwas anderes als pompöse, ruhmtriefende Erlässe hervorzubringen. Selbst bei der Verlegung von Hundehütten oder anläßlich der Erneuerung eines Sitzbrettes auf einer ländlichen Bedürfnisanstalt gab es Flaggen, Spaliere, Ehrensalven und stundenlange pathetische Reden. Gelegentlich konnte es geschehen, daß zum Abschluß der Feierlichkeiten auf schäumendem Renner der Schlußmann einer Stafette herangebraust kam, um zu melden, daß man an falscher Stelle amtiert habe. Doch tat das der gehobenen Stimmung und der allgemeinen Selbstzufriedenheit keinen Abbruch. Und erfahrungsgemäß sind es gerade solche Staaten, welche blühen und gedeihen und sich hohen internationalen Ansehens erfreuen.
Nun aber wird es Zeit, daß wir uns dem Helden unserer Geschichte zuwenden, dem eine Reise in dieses Land zum Schicksal werden sollte.
Karl Jagerfell, 2005 |
Cyriakus von Pizzicolli, der Sohn angesehener Eltern, erblickte zu Stixenstein in der Steyermark das Licht der Welt. Jedem andern hätte die Wahl dieses Geburtsortes zu denken gegeben. Ihm nicht. Er wuchs in den denkbar angenehmsten Verhältnissen auf, und alles schien darauf hinzudeuten, daß ihm ein geregeltes, sorgenfreies‚ von bürgerlicher Achtung umhegtes Leben bevorstünde.
Die Familie Pizzicolli stammte aus Ancona, wo, als dieser Teil der sogenannteten Legationen des Kirchenstaates noch unter österreichischer Verwaltung stand, der Großvater Cyriaks den Posten eines k. k. Münzwardeins des dorthin dislozierten Herzoglich Rovere’schen Münzamtes von Urbino bekleidet hatte — ein überaus verantwortliches, wenngleich so gut wie ressortloses Amt, denn die besagte Münze hatte ihren Betrieb 1631 eingestellt.
Der Grund hiefür lag in einem fiskalischen Prozeß, der frühesten in einigen Jahrhunderten abgeschlossen sein wird, nämlich erst dann, wenn endgültig geklärt ist, wieso der erste Herzog Urbinos aus dem Hause della Rovere nicht nur der Sohn des letzten, 1508 verstorbenen Herzogs aus dem Hause Montefeltre, sondern zugleich ein Sohn des Papstes Julius II. sein konnte. Tatsache ist, daß Julius II. seinen Sohn Francesco della Rovere, bis dahin Tyrannen von Sinigaglia, der nun eben ein Sohn des erwähnten Guidobaldo von Montefeltre gewesen sein soll, zum Herzog von Urbino ernannte. Ich habe, offen gesagt, diese Darstellung nie so recht verstanden; doch tritt die Universität Lecce in Apulien mit Nachdruck für sie ein. Fest steht jedenfalls, daß Leo X.‚ der Nachfolger Julius’ II., dessen Weg zur Hölle buchstäblich mit mißratenen Söhnen gepflastert war, sich von den Rechts- und Kompetenzfragen dieser komplizierten Sachlage dergestalt angewidert fühlte, daß er Franzen vertrieb und seinen Nepoten Lorenzo de Medici — nach Gemälden zu urteilen, wohl eher der Sohn einer ausnahmsweise schon damals existenten Negerjazzband — mit Urbino belehnte. Leos Nachfolger Urban VIII. entschloß sich aber im Jahre 1631, Urbino dem Kirchenstaat einzuverleiben. Dort blieb es bis 1860 und wurde schließlich nach längerer Belagerung an einem langweiligen Nachmittag durch Garibaldi ganz allein gestürmt. Die anderen Herren hatten sich beim Mokka verplauscht.
Des Kaisers neue Kleider, 2004 |
Am weitaus merkwürdigsten war die Beziehung Cyriaks zu Hunden. Oft preschten ganze Rudel von ihnen mit gesträubtem Fell auf ihn los, ohne daß irgend jemand wußte, wie sie sich so plötzlich zusammengeschart hatten. Aber jedesmal hielten sie knapp vor Cyriak inne, wurden verlegen und machten sich dann Stück für Stück allerhand anderes zu schaffen, als ob das Ganze sie nichts anginge. Schließlich verkrümelten sich die ordinären Gesellen, unter denen rätselhafterweise immer ein paar Molosser zu sehen waren, Angehörige einer Hundesorte, die lediglich in antiken Erzählungen auftritt.
Zeitdruck, 2006 |
Quelle: Das Beste von Herzmanovsky-Orlando. Erzählungen und Stücke. Herausgegeben und bearbeitet von Friedrich Torberg. Tosa Verlag, Wien, 1995. ISBN 3-85001-527-0. Seite 123-130
Alle Bilder zu diesem Post stammen von Hans Reiser (* 1951)
Er selbst bezeichnet sich als „Karikaturist, Illustrator, Schönfärber“. Dabei tarnt er sich als Feinmaler und Geschichtenerzähler. Offensichtlich mühelos bedient er sich altmeisterlicher Maltechniken wie der Grisaille-Untermalung oder der Lasurmalerei, um seine außergewöhnlichen Bildsujets umzusetzen. Virtuos und mit viel Liebe zum Detail arrangiert er Gegenstände, kostümiert seine Protagonisten und gestaltet den Bildraum seiner surreal anmutenden Ölportraits wie eine Bühne.
Er ist der legitime geistige Sohn von Michael Mathias Prechtl (1926-2003).
Hans Reiser (* 1951), „Karikaturist, Illustrator, Schönfärber“ |
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