Streichquartett in D-Dur o. op. (Nr. 3), (1869?)
Das Quartett ist wohl das längste Streichquartett des 19. Jahrhunderts; ungekürzt – und Kürzungen sind hier wie in den beiden wagnerisierenden Schwesterwerken sinnvoll kaum möglich – dauert es knapp 70 Minuten, der 1. Satz allein rund 25. Formidee und poetischer Gehalt sind aber ganz anders als im B-Dur- und im e-Moll-Quartett: die Thematik ist stärker verfestigt und kontrastreicher, und der 3. Satz ist ein echtes Scherzo über das Lied »Hej, Slované«, das in den 1860er Jahren als Kampflied der tschechischen Nationalbewegung galt. Da der Anfang dieser Liedmelodie im Hauptthema des 1. Satzes anklingt und da seine punktierten Rhythmen in allen Sätzen eine große Rolle spielen – selbst im langsamen, der eben bezeichnenderweise ein Andantino, kein Adagio ist –, bleibt zu vermuten, daß dem ganzen Werk eine nationale poetische Idee, wenn nicht sogar ein Programm zugrunde liegt.
Streichquartett B-Dur o. op. (Nr. 2), (1869?)
Mit dem B-Dur-Quartett, das lange als verschollen galt und nur in einer Abschrift überliefert ist, beginnen Dvoráks Experimente mit der Übertragung Wagnerscher Kompositionsprinzipien auf das Streichquartett – Experimente, die bis heute, aus der Perspektive der späten Quartette und der Gattungs-Tradition, als unreif und mißglückt beurteilt werden. Daß dieses Urteil kaum gerechtfertigt ist, zeigt schon das B-Dur-Quartett. Von dem zugleich klassizistischen und »böhmischen« Ton wie vom kompakt-orchestralen Satz des 1. Quartetts kehrt es sich radikal ab; die klassischen Formen und Satztypen sind nur noch andeutungsweise zu erkennen. Beherrschend wird statt dessen ein überaus dichter, kontrapunktisch-chromatischer, in Bewegung und Dynamik ungemein nervöser Satz, in dem kaum noch Themen, sondern kleine und kleinste Motive in großen und immer neuen Steigerungswellen durchgeführt, motivisch weiterentwickelt, chromatisch fortgesponnen und kontrapunktisch verknüpft werden, oft in rücksichtslos dissonanter, manchmal auch noch ungeschickter Stimmführung und mit einer im Detail hochchromatischen, in der großformalen Disposition allerdings sehr einfachen Harmonik. Den Gefahren der Monotonie und Redseligkeit, die in einem solchen Stil naheliegen, nicht zuletzt durch die Reduktion der Thematik und thematischen Kontraste und durch die Auflösung der Formen, entgeht Dvorák nicht ganz; dennoch sind das B-Dur-Quartett und seine beiden Schwesterwerke faszinierende Stücke, welche die große Höranstrengung, die sie erfordern, reichlich lohnen.
CD 2 Track 3 Streichquartett B-Dur o. op. (Nr. 2), (1869?) - III. Allegro con brio
Streichquartett E-Dur op. 80 (ursprünglich op. 27), (1876)
Das Werk wurde erst 12 Jahre nach seiner Entstehung von Simrock verlegt, der ihm, zum Ärger Dvoráks, die hohe Opuszahl gab; uraufgeführt wurde es erst 1890, dann allerdings durch das Joachim-Quartett in Berlin. Trotz seiner traditionell »positiven« Tonart ist es ein eher introvertiertes und vor allem im 1. und 2. Satz melancholisches, im Finale dramatisch aufgewühltes Stück, was damit zu tun haben mag, daß kurz zuvor ein Kind der Dvoráks gestorben war (die Komposition, in der der Komponist diesen Verlust am intensivsten verarbeitete, wurde das »Stabat mater«). Im Charakter und Gewicht der Sätze, vor allem im Verhältnis der beiden Ecksätze zueinander, ist es fast eine Replik des op. 16, satztechnisch – mit einer ausgeprägten Neigung zu chromatischer Polyphonie – und harmonisch aber ungleich differenzierter.
Zypressen. 12 Stücke für Streichquartett (1865 / 1887)
Die Stücke bilden ein Unikum der Streichquartett-Literatur. Dvorák hatte 1865 18 Gedichte aus der Sammlung »Zypressen« von Gustav Pfleger-Moravský als Klavierlieder komponiert, aber nicht veröffentlicht. Wahrscheinlich 1881/82 arbeitete er 10 von ihnen, 1888 die restlichen 8 zum Teil erheblich um; 4 davon wurden 1882 unter der Opuszahl 2, die letzten 8 1889 als op. 83 gedruckt. Diese 8 und 4 weitere der ursprünglichen Liedfassungen wurden aber außerdem, im April und Mai 1887, zu Streichquartett-Sätzen umgestaltet. […] Das Ergebnis sind »Lieder ohne Worte«, die gerade durch ihre Schlichtheit und die wortlose Kantabilität ihrer Melodiestimme einen ganz eigentümlichen Reiz haben. Dvorák schätzte sie nicht gering ein; als er sie (erfolglos) Simrock zur Veröffentlichung anbot, nannte er sie »etwas in seiner Art Neues, das es verdient, bald das Licht der Welt zu erblicken«.
CD 3 Track 4 Streichquartett E-Dur op. 80 (1876) - IV. Finale: Allegro con brio
Streichquartett e-Moll o. op. (Nr. 4) (1870?)
Das Werk ist das formell originellste und reifste der 3 experimentellen Quartette dieser Zeit. Die 3 Großabschnitte sind deutlich voneinander abgehoben, gehen aber attacca ineinander über und sind thematisch eng verknüpft; zugleich sind die Themen schärfer profiliert und deutlicher kontrastiert als in den beiden Schwesterwerken, und die Satztechnik nähert sich – bei allen wagnerisierenden Zügen – wieder stärker dem traditionellen Quartettsatz, vor allem in der dialoghaften Durchführung kontrastierender Motive. Exemplarisch zeigt sich die neue Verbindung von wagnerisierenden und »klassischen« Zügen im Hauptthema mit seinen prägnanten, der thematischen Arbeit entgegenkommenden Motiven und seiner unruhigen Harmonik.
Streichquartett f-Moll op. 9 (1873)
Das Quartett bildet mit dem unmittelbar folgenden a-Moll-Quartett eine innere Einheit: In beiden Werken versucht Dvorák, sich vom Einfluß Wagners zu lösen; seine Formen konziser zu gestalten und eine persönliche Musiksprache zu entwickeln, die zugleich den Ansprüchen der klassisch-romantischen Tradition gerecht wird und die Intonationen der tschechischen Volksmusik in sich aufnimmt. Beide Werke sind nur in problematischer Gestalt überliefert; den langsamen Satz des f-Moll-Quartetts hat der Komponist 4 Jahre später zur Romanze für Violine und kleines Orchester (oder Klavier) op. 11 umgearbeitet.
Das f-Moll-Quartett ist bisher nur in einer Bearbeitung von Günter Raphael (1929, Uraufführung 1930) veröffentlicht . Eine Grundidee des Werkes scheint die Entwicklung von den dunklen Tönen des 1. Satzes über 2 leichtere, intermezzohafte Episoden zum optimistischen Finale und parallel dazu die Entwicklung zu immer stärkerer Durchdringung des Satzes und der Themen mit volksmusikalischen Tonfällen gewesen zu sein, also ein inneres Programm ähnlich dem des e-Moll-Quartetts, verbunden mit dem nationalen Ton des D-Dur-Werkes und in die klassische Viersätzigkeit gefaßt, die durch thematische Vereinheitlichung konzentriert wird.
Streichquartett a-Moll op. 12 (1873)
Das Quartett ist unmittelbar nach dem f-Moll-Werk geschrieben worden, und zwar als einsätziges Stück, in dem aber die 4 Sätze der klassischen Form zu erkennen sind, und mit einem »Programm« ähnlich dem des Schwesterwerkes. Später (es ist unklar, wann) hat Dvorák mit einer ganz tiefgreifenden Umarbeitung des Werkes begonnen, diese Umarbeitung aber nicht zu Ende geführt. Dabei wurden die 4 Abschnitte zu selbständigen Sätzen erweitert, der langsame Abschnitt, der in a-Moll stand, durch einen langsamen Satz in E-Dur ersetzt und die Attacca-Übergänge der Teile getilgt.
CD 5 Track 3 Streichquartett f-Moll op. 9 (1873) - III. Tempo di valse
Streichquartett A-Dur op. 2 (ursprünglich op. 1) (1862)
Das Quartett wurde erst 1888 uraufgeführt; für diese Aufführung nahm Dvorák einige Kürzungen vor, die vom Böhmischen Streichquartett, das das Werk einige Zeit im Repertoire hatte, noch erweitert wurden (ungekürzt dauert das Stück etwa 48 Minuten). Im wesentlichen betreffen diese Striche Wiederholungen; sie weisen auf eine Schwäche hin, die viele Frühwerke Dvoráks zeigen: die Neigung, nicht nur einzelne Gedanken und Wendungen, sondern ganze Kompositionsabschnitte zu wiederholen.
Terzett C-Dur op. 74 (1887)
Dvorák hat nur zwei Trios, beide für die ungewöhnliche Besetzung mit 2 Violinen und Bratsche, hinterlassen. Beide sind Gelegenheitskompositionen für einen Hausmusikkreis, zu dem der Komponist selbst gehörte, und die »Miniaturen« op. 75a nehmen betont Rücksicht auf bescheidenere spieltechnische Fertigkeiten. Die Bezeichnung »Terzett« statt »Trio« legt die Stil-Ebene des Werkes fest: Es ist dezidiert nicht für den Konzertsaal gedacht, keineswegs anspruchslos, aber doch konzilianter als die großen Kammermusikwerke und ohne deren seelische und geistige Tiefe.
Streichquartett C-Dur op. 61 (1881)
Das Quartett verdankt seine Existenz einem Kompositionsauftrag, der ein Handstreich war: Dvorák erfuhr aus der Zeitung, daß das Wiener Hellmesberger-Quartett am 15.Dezember 1881 ein neues Quartett von ihm spielen werde. - »Was konnte ich also tun, ich mußte die Oper [Dimitrij] beiseitelegen und das Quartett schreiben« (Brief an Josef Göbel, 5.11.1881). Der Bedrängnis durch diesen Auftrag, mitten in der Arbeit an dem Opernprojekt, ist es wohl zuzuschreben, daß Dvorák zunächst unsicher arbeitete – ein Sonatensatz, Allegro vivace in F-Dur, wurde vollständig ausgearbeitet, dann aber verworfen – und bei der endgültigen Gestaltung ausnahmsweise auf ältere Werke zurückgriff: Das Thema des langsamen Satzes stammt aus einem verworfenen Adagio für die Violinsonate op. 57 (1880); die Kopfthemen der beiden letzten Sätze gehen auf die Polonaise für Cello und Klavier von 1879 zurück. Die von Hellmesberger geplante Uraufführung scheint nicht zustande gekommen zu sein: Das Konzert am 15. Dezember mußte wegen der öffentlichen Trauer um die Opfer des Ringtheater-Brandes abgesagt werden, und die erste Aufführung des Werkes scheint Ende 1882 in Bonn stattgefunden zu haben, nachdem es schon im Februar 1882 bei Simrock erschienen war.
Zwei Walzer für Streichquartett oder Streichorchester mit Kontrabaß ad lib. (nach op. 54) (1879/80)
Die zwei Stücke sind Bearbeitungen der Klavierwalzer op. 54 Nr. 1 (A-Dur) und 4 (Des-Dur, Bearbeitung in D-Dur). Sie können auch mit Streichorchester gespielt werden und wurden so – überaus erfolgreich – am Ostermontag 1880 uraufgeführt; in beiden Fassungen ist der Kontrabaß ad lib. und verstärkt nur die harmonisch wichtigsten Töne und Kadenzen der Cellostimme. Formal sind die Stücke große Konzertwalzer mit mehreren Trios, dem Charakter nach sehr reizvolle, von Gebrauchsmusik weit entfernte Kammermusik – das erste ein langsamer Wiener Walzer mit schnelleren Trios, am Schluß mit einer poetischen kleinen Reminiszenz an das erste Trio; das zweite ein brillianter und mehr tschechisch als wienerisch klingender schneller Tanz.
CD 7 Track 2 Streichquartett C-Dur op. 61 (1881) - II. Poco adagio e molto cantabile
Streichquartett d-Moll op. 34 (1877)
Das Quartett wurde in nur 12 Tagen niedergeschrieben, zwischen dem »Stabat mater« und der ersten Serie der »Slawischen Tänze«. Dvorák widmete es Brahms, der den Komponisten zu einer Reihe von Verbesserungen anregte, das Werk aber sogleich (zusammen mit dem E-Dur-Quartett) seinem Verleger Simrock empfahl; da Simrock mit der Veröffentlichung zögerte, erschien das d-Moll-Quartett schließlich 1880 bei Schlesinger. – Das Werk ist in vieler Hinsicht ein Gegenbild zum E-Dur-Quartett: in der melancholischen, nur im Finale zu dramatischer Erregung gesteigerten Grundhaltung dem älteren Werk sehr ähnlich, in der thematischen und formalen Konzentration und im Vorherrschen einfacher Satztypen (Melodie mit Begleitung) diametral entgegengesetzt.
Streichquartett a-Moll op. 16 (1874)
Dvoráks 7. Quartett, in 10 Tagen niedergeschrieben, war das erste Kammermusikwerk des Komponisten, das im Druck erschien, wenngleich nur in einem risikofreudigen kleinen Prager Musikverlag (1875); öffentlich aufgeführt wurde es erst drei Jahre später. Das Werk ist unmittelbar nach der 2. (ent-wagnerten) Fassung der Oper »König und Köhler« und nach der 1. »Slawischen Rhapsodie« für Orchester (op. 14) entstanden und das erste Kammermusikwerk, in dem der Komponist seine ganz eigene und zugleich ganz nationale Sprache spricht; das erste auch, das konsequent, wenn auch keineswegs sklavisch, den klassischen Form- und Satztraditionen wieder folgt und das von allen Einflüssen Wagners frei ist. Obwohl es sicherlich nicht zu den bedeutendsten, wenn auch zu den liebenswürdigsten Werken Dvoráks gehört, steht es so an einem Wendepunkt seiner Entwicklung.
CD 8 Track 5 Streichquartett a-Moll op. 16 (1874) - I. Allegro ma non troppo
Streichquartett Es-Dur op. 51 (1878/79)
Das Werk wurde schon wenige Monate nach der Vollendung uraufgeführt (vom Joachim-Quartett) und veröffentlicht – Dvorák war ein berühmter Komponist geworden. Es geht auf eine Anregung zurück, die für die einseitig auf den »böhmischen Musikanten« fixierte Dvorák-Rezeption nach dem internationalen Durchbruch des Komponisten mit den »Mährischen Duetten« und »Slawischen Rhapsodien« bezeichnend ist: Der Primarius des Florentiner Streichquartetts, Jean Becker, wünschte ein Quartett für sein Ensemble, aber ausdrücklich ein »slawisches«. Dvorák entsprach dem Wunsch, indem er den 2. Satz als Dumka gestaltete, das Finale aus einem tschechischen Springtanz entwickelte und die beiden übrigen Sätze zwar nicht zu Charakterstücken zuspitzte, aber auf betont einfache und eingängige Melodik und Verarbeitung ausrichtete. Das Ergebnis war ein Werk, das gerade wegen seiner Einfachheit und unmittelbaren Eingängigkeit sofort populär wurde. Einfach und eingängig ist schon das Verhältnis der Ecksätze zueinander, womit Dvorák bezeichnenderweise auf die klassischen Normen vor Beethoven zurückgreift: Im Gegensatz zu den Verhältnissen in den vorausgegangenen Quartetten hat jetzt der 1. Satz das stärkste Gewicht, und das Finale ist ein unbeschwerter »Kehraus«.
Streichquartett As-Dur op. 105 (1895)
Dvorák begann die Arbeit an seinem vorletzten Streichquartett noch in Amerika, brach sie aber am Ende der Exposition des 1. Satzes ab und nahm sie erst nach der Komposition des G-Dur-Quartetts wieder auf; so erklärt sich, daß das Werk mit der niedrigeren Opuszahl eigentlich das jüngere der beiden ist. Beide Werke sind wesentlich anspruchsvoller als das F-Dur-Quartett, greifen aber andererseits Tendenzen aus ihm wieder auf, am deutlichsten in der ganz originellen Gestaltung der Scherzi, aber auch in der Neigung zur Themenbildung aus sehr einfachen und knappen Motiven und in einer gewissen Zurückhaltung des persönlichen Ausdrucks, die den Grundton der Werke freundlicher, auch konzilianter als in den expressiven frühen Quartetten erscheinen läßt, die aber auch zu einer noch konzentrierteren Versenkung in das Detail des Quartett-Satzes führt – so, als ob der Komponist jetzt mehr für sich als aus sich heraus schreibt, sich mit sich selbst über das Streichquartett unterhält.
CD 9 Track 3 Streichquartett Es-Dur op. 51 (1878/79) - III. Romanza: Andante con moto
Streichquartett F-Dur op. 96 (1893)
Das Quartett ist in Dvoráks amerikanischem Ferienort Spilville, einer tschechischen Siedlung in Iowa, entstanden; uraufgeführt wurde es am 1. Januar 1894 in Boston. Von allen Streichquartetten, ja von allen Kammermusikwerken Dvoráks ist es das kürzeste und das einfachste; beides hat, zusammen mit der außerordentlichen Frische und Einprägsamkeit der Themen und der gleichbleibenden Inspiriertheit des Ganzen, zu seiner Popularität beigetragen. Ob die Melodik des Werkes (wie die der unmittelbar zuvor komponierten e-Moll-Sinfonie) wirklich »amerikanisch«, d. h. von der Volksmusik und volkstümlichen Musik der Schwarzen oder gar der Indianer beeinflußt ist, wie immer wieder behauptet wurde, steht dahin: Die melodischen und rhythmischen Eigenarten wie Pentatonik, natürliches Moll (ohne Leitton) und Synkopen können ebensogut der tschechischen Volksmusik entstammen, die Dvorák bei seinen Landsleuten in Spilville besonders nahe sein mußte.
Streichquartett G-Dur op. 106 (1895)
Das Werk ist in wenigen Wochen im November und Dezember 1895 in Prag entstanden; die Uraufführung spielte das Böhmische Streichquartett, eines der berühmtesten Kammermusik-Ensembles der Epoche, am 9. Oktober 1896. – Es beginnt mit einem der subtilsten Sätze (2/4), die Dvorák geschrieben hat, Lehrstück für jene, die den Komponisten auf den »böhmischen Musikanten« reduzieren möchten. Das 1. Thema setzt sich aus den unscheinbarsten Motiven zusammen, Naturlauten, zu denen nach 26 Takten ein nicht mehr naturhaftes, aber kaum weniger unscheinbares Motiv hinzutritt. Aus diesen Elementen entwickelt sich ein Sonatensatz von außerordentlicher Feinheit, in dem den zunächst fast neutral wirkenden Motiven des Anfangs eine Fülle von Verwandlungen und Nuancierungen abgewonnen wird. – Das Werk ist ganz offensichtlich von Ideen inspiriert, die Dvorák zu Lebensbereichen, die für ihn zentral waren, entwickelt hatte: Natur, Volk, Religion. Trifft diese Deutung zu, so ist Dvoráks letztes Streichquartett auch sein persönlichstes; dasjenige, das sich, auf äußerst subtile Weise, am weitesten von den Normen der Gattung entfernt und das sich in dieser Haltung, obgleich alles Ideelle in ihm vollkommen in Musik-Sprache aufgehoben erscheint, zuinnerst mit den Streichquartetten Smetanas berührt.
CD 10 Track 5 Streichquartett G-Dur op. 106 (1895) - I. Allegro moderato
Quelle: Ludwig Finscher, in: Arnold Werner-Jensen (Hrsg): Reclams Kammermusikführer, 13. Auflage, 2005, ISBN 3-15-010576-5, Auszüge aus den Seiten 722-752
TRACKLIST ANTONÍN DVORÁK: STRING QUARTETS (COMPLETE) STAMITZ QUARTET: Bohuslav Matousek, violin I Josef Kekula, violin II Jan Peruska, viola Vladimir Peixner, cello Producer: Rudolf Bayer Sound Engineer: Stanislav Sykora (CD 1-2), Christian Schulz (CD 3-10) CD 1 72'21 (Recording: Prague, 23/24 April 1993) String Quartet in D major (without opus numbers) (1869?) (1) Allegro con brio 26'20 (2) Andantino 17'25 (3) Allegro energico 14'42 (4) Finale, allegretto 13'37 CD 2 56'06 (Recording: Prague, 21/22 May 1993) String Quartet in B flat major (without opus numbers) (1869?) (1) Allegro non troppo 11'21 (2) Largo 15'23 (3) Allegro con brio 6'51 (4) Finale: Andante - Allegro giusto - Allegro con fuoco 15'08 Quartet piece (originally from the a minor quartet op. 12, 1873) (5) Andante appassionato 6'59 CD 3 67'14 (Recording: Prague, January 1993) String Quartet in E major Op. 80 (1876) (01) Allegro 9'13 (02) Andante con moto 7'38 (03) Allegretto scherzando 5'12 (04) Finale: Allegro con brio 8'04 Zypressen (Liebeslieder) for String Quartet (1865) (05) I 4'03 (06) II 2'14 (07) III 2'34 (08) IV 5'57 (09) V 3'21 (10) VI 2'32 (11) VII 2'02 (12) VIII 3'02 (13) IX 2'49 (14) X 2'10 (15) XI 2'30 (16) XII 2'44 CD 4 44'49 (Recording: Prague, February 1992) String Quartet in E minor (without opus numbers) (1870?) (1) Assai con moto ed energico 14'55 (2) Andante religioso 8'44 (3) Allegro con brio 11'34 Beginning movement of quartet in F major (1880) (4) 9'27 CD 5 72'53 (Recording: Prague, May 1991) String Quartet in F minor Op. 9 (1873) (1) Moderato 15'53 (2) Andante con moto quasi allegretto 9'56 (3) Tempo di valse 3'45 (4) Finale: Allegro molto 7'40 String Quartet in A minor Op. 12 (1873) (5) Allegro ma non troppo 9'50 (6) Poco allegro 7'29 (7) Poco adagio 8'29 (8) Finale: Allegro molto 9'13 CD 6 60'16 (Recording: Prague, December 1990) String Quartet in A major Op. 2 (1862) (1) Andante - Allegro 13'09 (2) Andante affetuoso ed appassionato 10'29 (3) Allegro scherzando 5'46 (4) Finale: Allegro animato 10'27 Terzet in C major for 2 violins and viola, Op. 74 (1887) (5) Introduzione: Allegro ma non troppo 4'13 (6) Larghetto 5'52 (7) Scherzo: Vivace 4'25 (8) Thema con variazioni, poco adagio 5'24 CD 7 45'28 (Recording: Prague, 1990) String Quartet in C major Op. 61 (1881) (1) Allegro 14'18 (2) Poco adagio e molto cantabile 7'29 (3) Scherzo 8'35 (4) Finale: Vivace 7'52 Two Waltzes for string quartet after Op. 54 (1879/80) (5) No 1, moderato 3'59 (6) No 2, allegro vivace 2'44 CD 8 62'45 (Recording: Prague, 1989) String Quartet in D minor Op. 34 (1877) (1) Allegro 12'29 (2) Alla Polka 6'44 (3) Adagio 7'09 (4) Finale: Poco allegro 6'55 String Quartet in A minor Op. 16 (1874) (5) Allegro ma non troppo 9'09 (6) Andante cantabile 7'45 (7) Allegro scherzando 4'25 (8) Finale: Allegro ma non troppo 7'28 CD 9 70'17 (Recording: Prague, 1990) String Quartet in E flat major Op. 51 "Slavonic" (1878/79) (1) Allegro ma non troppo 11'06 (2) Dumka (Elegia): Andante con moto - Vivace 8'32 (3) Romanza: Andante con moto 7'31 (4) Finale: Allegro assai 7'24 String Quartet in A flat major Op. 105 (1895) (5) Adagio ma non troppo - Allegro appassionato 8'19 (6) Molto vivace 6'11 (7) Lento e molto cantabile 8'56 (8) Allegro non tanto 12'35 CD 10 65'17 (Recording: Prague, 1987) String Quartet in F major Op. 96 "American" (1893) (1) Allegro ma non troppo 7'24 (2) Lento 8'31 (3) Molto vivace 3'55 (4) Finale: Vivace ma non troppo 5'38 String Quartet in G major Op. 106 (1895) (5) Allegro moderato 10'10 (6) Adagio ma non troppo 10'29 (7) Molto vivace 7'16 (8) Finale: Andante sostenuto - Allegro con fuoco 11'17
»Viel Feind, viel Ehr«
Kaiser Heinrich IV. am Grab seines Gegenkönigs
»Als unter Kaiser Heinrich [...] das Reich aufs schlimmste zerspalten war und in folge der Auflehnung des größten Teils der Großen gegen ihren Fürsten das Reich fast in seiner ganzen Ausdehnung durch Feuer und Schwert verwüstet wurde, entschloß sich Gregor VII., der damals den Bischofsstuhl der Stadt Rom innehatte, den Kaiser als von den Seinen im Stich gelassen mit dem Schwert des Kirchenbannes zu schlagen. Dieses ungewöhnliche Vorgehen erregte im Reich um so heftigere Empörung, als man wußte, daß niemals bisher ein solcher Spruch gegen einen römischen Kaiser verkündet worden war. [...]
Der Römische Pontifex Gregor aber, der, wie gesagt, schon die Fürsten gegen den Kaiser aufwiegelte, schrieb jetzt geheim und offen an alle, sie sollten einen anderen wählen. So wurde Herzog Rudolf von Schwaben von ihnen zum König gewählt und erhielt, wie berichtet wird, von der Römischen Kirche ein Diadem mit folgender Inschrift: Rom gab Petrus die Krone und Petrus gab sie dem Rudolf.
[...] Nicht lange danach wurde Rudolf von den Getreuen des Kaisers im offenen Kampf getötet und in der Kirche von Merseburg mit königlichen Ehren beigesetzt. Über den Kaiser wird berichtet, nachdem diese Aufstände einigermaßen niedergeschlagen waren, sei er einmal in die Merseburger Kirche gekommen und habe dort diesen Rudolf wie einen König bestattet liegen gesehen; als ihn nun jemand fragte, warum er zugelassen habe, dass jemand, der nicht König gewesen sei, mit königlichen Ehren bestattet liege, habe er gesagt: Möchten alle meine Feinde so ehrenvoll bestattet liegen!«
(Otto von Freising, Gesta Frederici 1,1 und 1,7)
Herrschaftsübergabe von Heinrich IV. an seinen Sohn Heinrich V., Darstellung aus der Chronik des Ekkehard von Aura. Heinrich IV. überreicht seinem Sohn Heinrich V., der das Lilienzepter in seiner Rechten hält, die Reichsinsignien Sphaira (mit einem Kreuz) und Kronreif. Der junge Heinrich muss sich auf einen Hügel stellen, um auf gleicher Höhe mit seinem Vater zu sein. Von seinem Vater übernimmt er die Reichsinsignien und damit die Herrschaft. Die ca. 1106 entstandene Zeichnung soll den Eindruck erwecken, die Herrschaft sei friedlich von Heinrich IV. auf seinen Sohn Heinrich V. übergegangen.
Wäre für eine Darstellung der Weltgeschichte ein Geschehenszusammenhang aus dem deutschen Hochmittelalter auszuwählen, so würde die Wahl höchstwahrscheinlich auf die Zeit Kaiser Heinrichs IV. fallen. Erscheint sie uns doch als eine Wendezeit, in der starke Persönlichkeiten wie der Salier und Papst Gregor VII. um das kämpften, was sie aus ihrem jeweiligen Blickwinkel als gutes Recht von Herrscher und Reich beziehungsweise als Freiheit der Kirche verteidigten. Spätere Deutungen des Investiturstreits und der mit ihm verwobenen Konflikte gerieten zu einer Meistererzählung, die nicht nur die universale Bedeutung des Streits, sondern auch seine Auswirkungen auf den Gang der deutschen Geschichte hervorhob. Im Widerstand der stolzen Sachsen gegen neue Formen der Königsherrschaft und in der Opposition von Fürsten, die gegen Heinrich die Partei des Reformpapsttums ergriffen und mit dem Schwabenherzog Rudolf von Rheinfelden sogar einen Gegenkönig wählten, sah man im Zeitalter des Nationalstaates die Behauptung des deutschen Föderalismus auf Kosten eines starken Königtums, wie es sich in anderen Reichen des 11. und 12. Jahrhunderts durchzusetzen begann, aber auch die Behauptung eines freiheitlichen Widerstandsrechtes gegenüber herrscherlicher Willkür. Im Auftreten der Einwohner von Bischofsstädten, die ihrem König zu Hilfe eilten und dafür von ihm mit Privilegien belohnt wurden, sah man die Anfänge eines politisch eigenständigen Bürgertums in der deutschen Geschichte. Die bekannteste Episode dieser Meistererzählung dürfte der sprichwörtlich gewordene Gang nach Canossa im Januar 1077 sein. Bismarcks »Nach Canossa gehen wir nicht«, 1872 im Kulturkampf geprägt, wurde seinerseits zum geflügelten Wort.
Gregor VII. in der I-Initiale einer Handschrift der zweiten Hälfte des 12.Jahrhunderts. Mit ihr ([I]gitur Gregorius usw.) beginnt die um 1130 entstandene Biographie Gregors VII. des Paul von Bernried, die einzige mittelalterliche Lebensbeschreibung dieses Papstes. Sie ist nur in Legendensammlungen überliefert.
Die hier vorzustellende Anekdote von der schlagfertigen Antwort Kaiser Heinrichs am Grab seines Gegenkönigs besitzt nicht die Popularität des Canossagangs, hat aber ebenfalls das Potential, einem Historien- oder Sprachbild als Vorlage zu dienen. Erfüllt hat sie diese Funktion freilich kaum. In den viel gelesenen Geschichtsdarstellungen des langen 19. Jahrhunderts, wie Wilhelm von Giesebrechts Geschichte der deutschen Kaiserzeit, wird sie nicht eigens aufgegriffen. Lediglich Karl Hampe (Herrschergestalten des deutschen Mittelalters, 5.Aufl. 1933, S. 158) erwähnt »das prächtige Grabmal Rudolfs im Merseburger Dom, das Heinrich später einmal den witzigen Stoßseufzer entlockt haben soll: 'Ach wenn doch alle meine Feinde so ehrenvoll bestattet lägen!'«
Angesichts des gewandelten Erkenntnisinteresses am Mittelalter wäre es jedoch ein Rückschritt, die Anekdote im Dienste der eigenen Selbstvergewisserung auf Kosten der Vergangenheit zu erzählen. Die Zeit Heinrichs IV. wird heute nicht mehr wie im 19. und 20. Jahrhundert in ein Geschichtsbild gepresst, in dem sie politische Ansprüche der Gegenwart begründen und zur verklärenden Heldenschau herhalten soll. Ein Glück, möchte man sagen, läge dies nicht auch an der Geschichtsvergessenheit unserer Gegenwart. Nähert man sich dagegen dem Hochmittelalter mit Hilfe der neueren Mittelalterforschung, so ist eine Zeit zu entdecken, die Eigenständigkeit besitzt und uns zugleich unmittelbar betrifft. Das europäische Hochmittelalter war eine Zeit des Umbruchs in nahezu allen Lebensbereichen. Die Persönlichkeiten und Taten der Herrschergestalten, von denen wir dank der keinesfalls objektiven Schilderungen ihrer Zeitgenossen wissen, aber auch das Handeln der vielen namenlos Gebliebenen verbanden sich mit einem allgemeinen Strukturwandel, dessen Nachwirkungen bis in unsere Gegenwart reichen. Hergebrachte Ordnungen wurden auf einmal fragwürdig, Neues zeigte sich in bisher unbekannten Lebensformen, technischen Innovationen oder Denkweisen. Zeitgenossen und Spätere nahmen dies bewusst wahr, wie die Bemerkung Ottos von Freising zur erstmaligen Exkommunikation eines römisch-deutschen Herrschers durch den Papst zeigt.
Papst Gregor VII, mittelalterliche Miniatur
Erst vor diesem Hintergrund wird das Außergewöhnliche unserer Anekdote sichtbar. Sie thematisiert den hochmittelalterlichen Wandel gleich in mehrfacher Hinsicht. Mit Rudolf von Schwaben begegnet der erste Gegenkönig der deutschen Geschichte. Ein Novum ist ebenfalls seine Grablege im Merseburger Dom, dem Schauplatz unserer Geschichte. Ja, sogar Heinrichs ironischer Seufzer ist als solcher ein Ausdruck der Herausforderung durch eine ins Wanken geratene Welt. Die Aussagekraft dieser Elemente der Geschichte für das Verständnis ihrer Zeit soll im folgenden erläutert werden. Zugleich ist jedoch auf den Überlieferungskontext der Anekdote einzugehen. 1157/58 hat sie Otto von Freising in seinem Geschichtswerk festgehalten. Höchstwahrscheinlich diktierte er es auf der Grundlage von Notizen einem Schreiber. Durch die Verschriftung wurde das bisher nur mündlich Weitergegebene nahezu untrennbar mit dem Werk und dessen Umfeld verbunden. Die Antworten auf die Fragen, wie und für wen Otto von Freising die Anekdote erzählte, sind für ihr Verständnis daher von gleicher Bedeutung wie eine vertiefte Kenntnis der erzählten Begebenheiten. Über diese Fragen erfassen wir schließlich auch den mittelalterlichen Beitrag zur Geschichte der Anekdote.
Ein weiteres Zeugnis für die Verehrung Rudolfs von Schwaben ist die ihm zugeschriebene mumifizierte Hand, die seit dem 16. Jahrhundert in einem eigens dafür angefertigten Kästchen aufbewahrt wird. Zu sehen ist die Hand im Merseburger Kapitelhaus.
Worin also bestand für den mittelalterlichen Leser der Anekdote deren Pointe? Warum empörte sich Heinrichs Gefolge so über den im Grab liegenden Gegenkönig? Schließlich war Rudolf tot. Bereits nach seiner im März 1077 erfolgten Wahl und Krönung hatte er sich nicht gänzlich im Reich behaupten können. Einige oppositionelle Fürsten, die wie er die Kirchenreform förderten und die ihm Zugeständnisse bei der Königswahl abverlangt hatten, sowie vor allem die Sachsen, die Rudolf trotzig ihren König nannten, hielten zu ihm. Der von seinem Canossagang zurückgekehrte Heinrich nahm den Kampf so erfolgreich auf, dass sich Rudolfs direkter Handlungsspielraum bald auf Sachsen beschränkte. Das Jahr 1080 schien jedoch eine Wende zu bringen. Rudolf erfocht im Januar bei Flarchheim einen Sieg über Heinrich. Der bis dahin abwartend taktierende Gregor VII. bannte den Salier nun erneut und erkannte den Rheinfeldener endlich als König an. Auch am Fluss Elster, wo die Heere beider Seiten am 15. Oktober 1080 aufeinandertrafen, neigte sich das Schlachtenglück dem Gegenkönig zu. Doch der Sieg verwandelte sich in eine katastrophale Niederlage, da Rudolf tödlich verwundet worden war und noch am Abend starb. Es war die Art und Weise, in der dies geschah, die seine Anhänger erschütterte und die Partei des gebannten Königs frohlocken und von einem Gottesurteil sprechen ließ. Denn Rudolf war im Kampf die rechte Hand abgehauen worden, mit der er, Herzog und Schwager König Heinrichs, diesem einst den Treueid geschworen hatte. Die Geschlagenen nahmen sich des Leichnams und des Gedenkens an ihren toten König an; den sie als politischen Märtyrer verehrten. Zu ihnen zählte der Merseburger Bischof Werner, in dessen Bischofskirche der Tote beigesetzt wurde. Heinrich IV. dagegen beschritt den Weg zur Kaiserkrone, mit der er 1084 in Rom gekrönt wurde, und drängte weiterhin den sächsischen Widerstand zurück, freilich ohne ihn ganz brechen zu können. Im Anschluss an solch eine Unternehmung machte er in Merseburg Station. Dass Bischof Werner ab 1088 wieder im Rat der Fürsten bei einer Urkundenvergabe begegnet, lässt auf seine zuvor erfolgte Wiederannäherung an den Kaiser schließen. Der im 12. Jahrhundert schreibende Verfasser der Vita Wernheri berichtet sogar, dass der Bischof anlässlich des Besuchs des gerade nicht gebannten Herrschers im Dom die Messe gefeiert habe. Vielleicht war es diese Gelegenheit, bei der Heinrich dann erstmals am Grab seines Gegenkönigs stand?
Einzig überliefertes Siegel Rudolfs von Rheinfelden an einer Urkunde vom 25. März 1079
Obwohl Rudolf tot war, schien doch von seinem Grabmal eine Herausforderung auszugehen, die einen Begleiter des Kaisers zu einer auffordernden Frage drängte. Es war der demonstrativ zur Schau gestellte honor regalis, an dem sich der Frager stieß. Man kann diesen Begriff mit »königliche Ehre« übersetzen. Doch würde dies das von den Zeitgenossen Gemeinte nur ansatzweise wiedergeben. Seit einigen Jahren hat die Forschung auf die Komplexität und den zentralen Stellenwert des Ehrbegriffs im Mittelalter aufmerksam gemacht. Von jemandes Ehre zu reden ließ aufhorchen, da dies im Regelfall Taten nach sich zog. Bezog sich der Ehrbegriff doch auf ein im jeweiligen Zusammenhang als angemessen empfundenes Verhalten, das der Angesprochene einfordern konnte oder zu dem er selbst verpflichtet war. Ehrverletzungen mussten gemäß dieser Denkweise geahndet werden, um die gestörte Ordnung wiederherzustellen. Dies alles betraf etwa standesgemäßes Verhalten in der mittelalterlichen Ranggesellschaft oder, davon nicht zu trennen, in den Herrschaftsordnungen. Die Geltung solch eines Relationsbegriffes war stark fallbezogen und damit geprägt von dem Personenkreis, in dem sie gebraucht wurde. Seine Beachtung förderte die gemeinsame Identität. Unstimmigkeiten provozierten aber auch Konflikte, die oftmals eine fatale Eigendynamik entwickelten. Gerade dies macht sie für Historiker so interessant. Denn an den Auseinandersetzungen über nicht mehr oder noch nicht selbstverständliches Verhalten lässt sich besonders augenfällig der historische Wandel erkennen. Die Konflikte um Heinrich IV. sind ein klassisches Beispiel dafür. Da sich Königsherrschaft gerade auch in der Repräsentation zeigte, wurde die Ehre des Königs in seiner geweihten Person wie in seinen Insignien wahrgenommen. Und dies zeigte das Grabmal Rudolfs in einer für die Anhänger Heinrichs unerhörten Art und Weise. Da es sich bis heute erhalten hat, können wir es in Augenschein nehmen, um der Provokation nachzugehen.
Grabplatte des päpstlichen Gegenkönigs Rudolf von Rheinfelden, eines Schwagers Heinrichs IV., im Merseburger Dom, kurz nach dessen Tod 1080 gegossen Es handelt sich dabei um das früheste und singuläre Beispiel einer solchen Grabplastik mit porträthaften Zügen. Die umlaufenden Verse schließen mit den Worten: »Der Tod ward ihm zum Leben, denn er fiel für die Kirche.« Rudolf hatte Gregor VII. erklärt, er sei bereit, »auf jede Weise«» dem Papst zu gehorchen.
Die aus Bronze gegossene Grabplatte, die Rudolf von Rheinfelden im ganzfigürlichen Relief zeigt, ist das erste Beispiel ihrer Art, das wir aus dem Mittelalter kennen. Ursprünglich noch vergoldet, reich ornamentiert und mit eingelassenen Steinen geschmückt, muss dieses damals einzigartige Werk seine Betrachter verblüfft haben. Königliche Ehre war schon allein darin zu sehen. Doch darüber hinaus verband sich das verstörend Neue seiner Existenz mit der traditionellen Formensprache königlicher Repräsentation. Wie ein Angehöriger des Kaiserhauses der Ottonen, an die die Sachsen des späten 11. Jahrhunderts mit Wehmut zurückdachten, war Rudolf im Domchor beigesetzt worden. Alljährlich an seinem Todestag wurde seiner dort im liturgischen Gebetsgedenken gedacht. Und wie auf den Siegelbildern, die die Herrscher seit der Ottonenzeit führten, blickt er den Betrachter mit offenen Augen an und ist mit Krone, Zepter, Reichsapfel und Königsmantel angetan. Für die Weihe und Krönung war der Besitz solcher Herrschaftszeichen unerlässlich, so dass Rudolf sie für sich neu anfertigen lassen musste. Dass Gregor VII. ihm eine Krone geschickt habe, deren Inschrift ihren Träger offen als König von des Papstes Gnaden erwies, wie es Otto von Freising und andere Geschichtsschreiber später berichteten, dürfte eine Erfindung sein, die Heinrichs Anhänger ausgestreut hatten, um den Gegenkönig zu diffamieren. Doch auch über den Krönungstag hinaus war der Besitz der Insignien wesentlich für die Ausübung der Königsherrschaft. Wer wusste das besser als Heinrich IV. ? Hatte ihn doch die nach seiner ersten Bannung durch den Papst einberufene Versammlung der Reichsfürsten unter anderem dazu aufgefordert, die Zeichen der königlichen Würde abzulegen, und ihn zugleich zu dem Versprechen an den Papst verpflichtet, diesem für die Verletzung seiner Ehre Genugtuung zu leisten. Nachgekommen war Heinrich dem dann in einem Coup, der alle überraschte. Ohne königlichen Ornat, barfuß und im Büßerhemd hatte er im Schnee von Canossa vor dem nun seinerseits unter Zugzwang gesetzten Papst gestanden.
Der Dom zu Merseburg, Begräbnisstelle Rudolfs von Rheinfelden
Doch betrachten wir wieder die Merseburger Grabplatte. In einem Zeigegestus weist der überlange Zeigefinger der rechten (!) Hand auf das Kreuz auf der Weltkugel in der linken. Vielleicht wurde hiermit eine traditionelle Bildformel zu dem Hinweis auf Rudolfs Märtyrertod für die Sache des Reformpapsttums erweitert. Eindeutig ausgesprochen wird dies in der umlaufenden Inschrift, die weniger eine herkömmliche Grabinschrift als vielmehr ein Manifest in Versform ist, das Rudolfs Grab zu einem politischen Denkmal des Widerstandes gegen Heinrich IV. machte. Der gebildete Salier konnte selbst die lateinische Inschrift lesen und bedenken. Vielleicht las sie auch ein dazu aufgeforderter Geistlicher laut vor und bemühte sich, vor Angst schwitzend, ihr in deutender Übersetzung für die anwesenden kriegerischen Laien die Schärfe zu nehmen. Auf Deutsch lautet sie in der Übersetzung Percy Ernst Schramms (Die deutschen Kaiser und Könige in Bildern ihrer Zeit 751-1190, 1983, S. 117): »Hier liegt König Rudolf im Grabe, der für das Gesetz der Väter fiel. Beweint ihn; denn, hätt' er in Zeiten des Friedens geherrscht, käme seit Karl kein König im Rat und im Kampfe ihm gleich. Als die Seinen gewannen, starb er als heiliges Opfer des Krieges. Der Tod ward ihm zum Leben, denn er fiel für die Kirche.«
Heinrich IV. bittet den Abt von Cluny und die Markgräfin Mathilde von Tuszien um Fürsprache bei Papst Gregor VII. (Widmungsexemplar des Donizo für Mathilde von Tuszien).
Im Schmuck der Reichsinsignien dargestellt, an heiligem Ort mit liturgischem Gedenken bedacht, als rechtmäßiger Nachfolger der großen Könige und Verteidiger der Sache der Sachsen und des Reformpapsttums gerühmt - der tote Rudolf konfrontierte Heinrich IV. mit allen Problemen seines angefochtenen Königtums. Die Männer seines Gefolges, die Rudolf nicht als König, sondern als eidbrüchigen, ehrlosen Herzog sahen, werden dies in spiegelbildlicher Logik als unerträgliche Ehrverletzung für ihren Herrn aufgefasst haben. So wurde die Frage laut, wie er die Errichtung dieses Grabmals zugelassen habe, das jemanden ehrte, dem dies nicht zukam. Eine mögliche Antwort darauf wäre die Zerstörung der Stätte gewesen. Doch der Salier reagierte in einer Art und Weise, mit der Mächtige im Mittelalter oftmals einen Spannungsmoment entschärften, mit einem pointierten Ausspruch. Heutige Vorstellungen sehen im Mittelalter meist eine Zeit, der die Selbstironie abging. Heinrich IV. bewies hier jedoch seine Befähigung zu dieser Eigenschaft. Indem er selbst im Scherz auf die Vielzahl seiner höchst lebendigen Feinde aufmerksam machte, denen er solch ein königliches Begräbnis gönnte, relativierte Heinrich die im Raum stehende Herausforderung seiner königlichen Ehre durch die im Grabmal gezeigte und stellte sie gerade dadurch wieder her. Das Sprichwort »viel Feind, viel Ehr« mag wohl auch darauf passen. Heutigen Betrachtern der Merseburger Grabplatte, die sich unsere Anekdote vergegenwärtigen, kann sie ein Denkmal für den souveränen Umgang mit Verhaltensnormen in Krisenzeiten und eine Mahnung dafür sein, dass die Zerstörung eines unbequemen Monumentes nicht auch die damit verbundenen Probleme beseitigt.
Heinrich IV. vor Canossa im Januar 1077. Im Hintergrund legt die Markgräfin Mathilde von Tuszien beim zögernden Gregor VII. ein Wort für den Büßer ein. Die 1862 entstandene Zeichnung H. Plüddemanns wurde zum Jubiläum 1877, mitten im Kulturkampf, in der wöchentlich erscheinenden und weit verbreiteten Familienzeitschrift »Die Gartenlaube« veröffentlicht.
Es gab Stimmen gegen eine bildliche Darstellung der Szene. »Aus der Geschichte können wir freilich die Thatsache nicht löschen ... - aber uns noch malen lassen, al fresco, wie ein deutscher Kaiser ... sich vor dem Papst im Büßergewande demüthigt, ... nein: da reißt denn doch die deutsche Geduld ... Nach Canossa gehen wir nicht - auch auf dem Bilde nicht!« - so Adalbert Falk, der preußische Kultusminister während des Kulturkampfs. Bismarck hat sich Plüddemanns Canossa-Bild als Türvorhang in das Arbeitszimmer seines Herrenhauses im pommerschen Varzin hängen lassen.
Die mündliche Erzählkultur des Mittelalters liebte solche Geschichten. Unser Beispiel wurde mehr als siebzig Jahre nach dem Geschehen durch den Zisterziensermönch und Freisinger Bischof Otto aufgeschrieben. Seine Mutter Agnes, eine Tochter Heinrichs IV., war 1143 hochbetagt gestorben. In ihrer Person reichte die Erinnerung derjenigen, die die Kämpfe des Saliers noch erlebt hatten, bis in die Familie und das Umfeld desjenigen Herrschers hinein, zu dessen Belehrung Otto schrieb. Es war sein Neffe Friedrich, der 1152 König des römisch-deutschen Reiches und 1155 Kaiser geworden war. Barbarossa, wie ihn die Italiener wegen seines rotblonden Bartes nannten, hörte gerne von den Taten seiner Vorgänger und wollte seine frühen Erfolge ebenso gerühmt sehen. Sein gelehrter Onkel übernahm diese Aufgabe, stellte seinem Werk über »die Taten Friedrichs« jedoch ein erstes Buch über die Zeit seit Heinrichs Herrschaft voran. Dies hatte zum einen mit dem Aufstieg der Staufer zur Fürsten- und Königswürde zu tun, der mit Rudolfs Empörung begonnen hatte. Heinrich IV. hatte dem Grafen Friedrich von Staufen daraufhin nämlich nicht nur das Herzogtum Schwaben, sondern auch seine Tochter Agnes zur Frau gegeben. Die andere Funktion des ersten Buches bestand darin, mit der wie eine Endzeit empfundenen Krise der späten Salierzeit einen warnenden Kontrast zur Gegenwart zu setzen. Friedrichs Herrschaft hatte, so Ottos Vorwort, dem Reich den kaum noch erhofften Frieden gebracht. Und Friedrich I. legte in seiner Herrschaftspraxis größten Wert auf die Wahrung seiner Ehre und der des Reiches. Daher betraf ihn eine Anekdote, die die Grenzen dieses Konzeptes auslotete. Auch wird er sich an Rudolfs Grabmal erinnert haben. Denn unmittelbar nach seiner Königskrönung hatte Friedrich seinen ersten großen Hoftag in Merseburg abgehalten und das Pfingstfest im dortigen Dom gefeiert, in den er in feierlicher Prozession, seine Krone tragend, eingezogen war.
Die Burg Canossa heute
Doch Otto von Freising ermutigte seinen Adressaten nicht unbedingt zu solchen Aussprüchen. Er teilt auch ein anderes dictum mit, durch das der junge und mutwillige Heinrich die Sachsen gegen sich aufgebracht und damit den Keim zur späteren Krise gelegt haben soll. Diese Geschichte geht wie die von Rudolfs Krone auf die Propaganda der Zeit zurück. Doch legen zeitgenössische Vorwürfe gegen den jungen König, der Regeln ignorierte, weil er sich einen Namen machen wollte, nahe, dass sie einen historischen Kern besitzt. Worauf sie mit den anderen dicta Heinrichs IV. in der Chronik aufmerksam machen will, ist das Gewicht des öffentlich durch den Herrscher ausgesprochenen Wortes. Angesichts der Verhaltensnormen der mittelalterlichen Gesellschaft konnte es Konflikte lösen, aber auch, leichtfertig gebraucht, zum Ausbruch kommen lassen. Otto von Freising und andere Chronisten, die auf solche Weise belehren wollten, fanden bereits in der Bibel und der antiken Überlieferung Vorbilder des Anekdotischen. Indem sie nun Sinnsprüche und Beispielerzählungen ihrer Zeitgeschichte aus der mündlichen Überlieferung aufgriffen und weiterentwickelten, leisteten die mittelalterlichen Geschichtsschreiber ihren Beitrag zur Tradition der Geschichtsvermittlung durch anekdotisches Erzählen.
Quelle: Christoph Friedrich Weber: »Viel Feind, viel Ehr«. Kaiser Heinrich IV. am Grab seines Gegenkönigs. In: Matthias Steinbach (Hrgr): Wie der gordische Knoten gelöst wurde. Anekdoten der Weltgeschichte, historisch erklärt. Reclam, Stuttgart, 2011, ISBN 978-3-15-020227-2, Seite 67-76
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Reposted on November 28th, 2015
5 Kommentare:
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tot, ab 5
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