Was sogar einem so gut informierten Beobachter wie Shawe-Taylor nicht ganz klar geworden war, ist bis zu welchem Grad diese Aufnahme einen Höhepunkt darstellte. Es dauerte lange bis er erreicht wurde und er konnte nicht mehr länger aufgeschoben werden. Moore hatte sich bereits von Konzertauftritten zurückgezogen, und der Vierte in diesem Team, der Produzent Walter Legge, hatte EMI verlassen und kehrte nur dann in die Studios zurück, wenn er mit seiner Frau Schallplatten machte. Diese, Elisabeth Schwarzkopf (beinahe 52), wusste dass sich ihr Alter von dem der jungen Frau im Italienischen Liederbuch zunehmend entfernte. Sie hatte sich mit den Liedern regelmäßig befasst, sie 1954 in der Wigmore Hall (London) gesungen und damals auch einige Aufnahmen auf Tonträgern mit Moore gemacht. Nach weiteren Aufnahmeterminen 1958 und 1959 erschien eine Soloeinspielung. Danach, im September 1965, im April 1966 und im Herbst 1967, folgten die Termine aus denen die vorliegende Einspielung entstand.
Fischer-Dieskaus Verbindung mit den Liedern lag noch ein wenig weiter zurück. 1945 war er kurze Zeit in amerikanischer Kriegsgefangenschaft in Italien gewesen. Dort sah ein Freund, der auch Musiker war, zufällig die Noten des Werks; und da der junge Bariton die Lieder nicht kannte, gab er dem Verkäufer zwei Päckchen Zigaretten dafür. Später studierte Fischer-Dieskau beide Liederbücher, das Spanische und das Italienische, mit seiner Lehrerin und Pianistin, Hertha Klust, und nahm sie bald in seine Lieder-Programme auf. Gewöhnlich war Irmgard Seefried seine Sopran-Partnerin. Mit Elisabeth Schwarzkopf debütierte er jedoch im November 1964 mit dem Italienischen Liederbuch in der Carnegie Hall (New York). In seinen Memoiren, Nachklang (1987), erinnert er sich an seine Erfahrungen mit der Arbeit im Team: »Ich glaube, dass Elisabeth und ich unseren Teil zur Erhaltung der weltweiten Anerkennung von Liedern beitrugen« und er fügte hinzu: »Ich bin ihrem Gatten ewig dankbar dafür, dass er mich mit Gerald Moore zusammenbrachte.«
Dietrich Fischer-Dieskau, Gerald Moore und Elisabeth Schwarzkopf
Aufnahmen mit Legge waren besondere Anlässe bei denen Großartiges geleistet wurde, und es war nicht beabsichtigt, dass sie einfach sein sollten. Es gab jedoch keinen Komponisten dessen Werken er lieber seine Zeit widmete als Hugo Wolf. Er kannte ihn genau und verstand ihn zutiefst. Das Italienische Liederbuch beschrieb er in einem Begleitartikel zur ersten Ausgabe dieser Schallplatte als »feurig, verzweifelt, ironisch, böswillig, eifersüchtig und gelegentlich anbetend und einmalig zärtlich«. Anderswo (in On and Off the Record, 1982) schrieb er: »(Wolf) verstand Worte wie kein Komponist vor ihm, und in seinen Liedern verbindet er auf vollendete Weise ein Maximum an emotionalem Ausdruck mit der größten Präzision in Form und musikalischer Schönheit«. Zur Rolle des Pianisten erklärte er, dass Wolf seine Lieder als für Stimme und Klavier bezeichnete, nicht für Stimme mit Klavier. Zusammen mit Ernest Newman war Legge der einflussreichste Befürworter Wolfs im zwanzigsten Jahrhundert. Sein Einfluss erwies sich in der Praxis nicht nur im Organisieren von Konzerten und Schallplatten, sondern auch hinter den Kulissen als ein Mitarbeiter, der die Kenntnis eines Lehrers mit dem Eifer des ewig Lernenden verband.
Das Italienische Liederbuch ist für einen solchen Ansatz hervorragend geeignet. Den 46 Liedern, entstanden 1891 und 1896 in zwei Ausbrüchen kreativer Energie, könnte man in Marlowes Ausdrucksweise »unendlichen Reichtum auf engstem Raum« zuschreiben. Mit einem von ihnen, »Wer rief dich denn?« (Nr. 6), beschäftigten sich Legge und Schwarzkopf zwei Stunden lang und bewiesen damit ihre Fähigkeit, gemeinsam zu arbeiten und zu lernen. In der vorliegenden Aufnahme dauert das Lied etwas weniger als 75 Sekunden.
Dies mag auch ein Hinweis darauf sein was das Hören in diesem Fall einschließt. Legge war ein Realist und wusste, dass Wolf außerhalb Deutschlands und Österreichs kaum ein zahlreiches Publikum finden würde, das ihn rein sprachlich ganz verstand, besonders angesichts der verwirrenden Eile, mit der die Lieder einander folgen. Man sagte, es sei einer der glücklichsten und stolzesten Tage Legges gewesen als die Royal Festival Hall in London mit ihren beinahe 3000 Sitzplätzen bei einer Aufführung des kompletten Italienischen Liederbuchs völlig ausverkauft war. Aber schließlich ist das Italienische Liederbuch einmalig unter den Meisterwerken der Musik. Mit der Ausnahme von zehn dauern alle Lieder weniger als zwei Minuten, man muss sich dauernd neu konzentrieren. Doch Interpreten und Hörer werden dann reich belohnt, ganz besonders wenn die Aufführung der Höhepunkt jener Ausdauer und Hingabe ist, die in der Herstellung dieser besonderen Aufnahme zum Ausdruck kommen.
Quelle: John Steane, im Booklet (Übersetzung: Helga Ratcliff)
Track 1: Auch kleine Dinge (Dietrich Fischer-Dieskau)
Auch kleine Dinge können uns entzücken,
auch kleine Dinge können teuer sein.
Bedenkt, wie gern wir uns mit Perlen schmücken;
sie werden schwer bezahlt und sind nur klein.
Bedenkt wie klein ist die Olivenfrucht,
und wird um ihre Güte doch gesucht.
Denkt an die Rose nur, wie klein sie ist,
und duftet doch so lieblich, wie ihr wißt.
TRACKLIST Hugo Wolf 1860-1903 Italienisches Liederbuch (Anon. transl. Heyse) Band (Part/Partie) I (1890-1891) 1 1 Auch kleine Dinge b 2.08 2 2 Mir ward gesagt, du reisest in die Ferne s 2.05 3 3 Ihr seid die Allerschönste b 1.34 4 4 Gesegnet sei, durch den die Welt entstund b 1.36 5 5 Selig ihr Blinden b 1.34 6 6 Wer rief dich denn? s 1.12 7 7 Der Mond hat eine schwere Klag' erhoben b 2.04 8 8 Nun laß uns Frieden schließen b 1.52 9 9 Daß doch gemalt all' deine Reize wären b 1.37 10 10 Du denkst mit einem Fädchen s 1.07 11 11 Wie lange schon war immer mein Verlangen s 2.32 12 12 Nein, junger Herr s 0.49 13 13 Hoffärtig seid Ihr, schönes Kind b 0.44 14 14 Geselle, woll'n wir uns in Kutten hüllen b 2.11 15 15 Mein Liebster ist so klein s 1.31 16 16 Ihr jungen Leute s 1.09 17 17 Und willst du deinen Liebsten sterben sehen b 2.23 18 18 Heb' auf dein blondes Haupt b 1.58 19 19 Wir haben beide s 2.24 20 20 Mein Liebster singt s 1.26 21 21 Man sagt mir, deine Mutter woll' es nicht s 1.03 22 22 Ein Ständchen Euch zu bringen b 1.13 Band (Part/Partie) II (1896) 23 23 Was für ein Lied soll dir gesungen werden b 1.53 24 24 Ich esse nun mein Brot nicht trocken mehr s 1.55 25 25 Mein Liebster hat zu Tische mich geladen s 0.58 26 26 Ich ließ mir sagen s 1.56 27 27 Schon streckt' ich aus im Bett die müden Glieder b 1.48 28 28 Du sagst mir, daß ich keine Fürstin sei s 1.21 29 29 Wohl kenn' ich Euren Stand s 1.50 30 30 Laß sie nur geh'n b 1.29 31 31 Wie soll ich fröhlich sein s 1.49 32 32 Was soll der Zorn s 1.46 33 33 Sterb' ich, so hüllt in Blumen meine Glieder b 2.58 34 34 Und steht Ihr früh am Morgen auf b 2.38 35 35 Benedeit die sel'ge Mutter b 4.18 36 36 Wenn du, mein Liebster, steigst zum Himmel auf s 1.44 37 37 Wie viele Zeit verlor' ich b 1.27 38 38 Wenn du mich mit den Augen streifst b 1.38 39 39 Gesegnet sei das Grün s 1.29 40 40 o wär' dein Haus durchsichtig wie ein Glas s 1.32 41 41 Heut' Nacht erhob ich mich um Mitternacht b 1.29 42 42 Nicht länger kann ich singen b 1.04 43 43 Schweig' einmal still s 1.02 44 44 o wüßtest du, wie viel ich deinetwegen b 1.27 45 45 Verschling' der Abgrund s 1.27 46 46 Ich hab' in Penna einen Liebsten wohnen s 1.03 78.31 Elisabeth Schwarzkopf soprano/Sopran s Dietrich Fischer-Dieskau baritone/Bariton/baryton b Gerald Moore piano/Klavier Recorded/Aufgenommen/Enregistré: 13.IX.1965 (s), 31.I. & 1, 2.II.1966 (b), 10-17.IV.1966 (s). 27.IX.-3.X.1967 (s), Evangelisches Gemeindehaus, Zehlendorf, Berlin Producers/Produzenten/Directeurs artistiques: Walter Legge (s); Gerd Berg (b) Balance-Engineer/Tonmeister/Ingénieur du son: Ernst Rothe Digitally remastered at Abbey Road Studios by Simon Gibson ADD ® 1969 ® 2003 © 2003
Track 11: Wie lange schon war immer mein Verlangen (Elisabeth Schwarzkopf)
Wie lange schon war immer mein Verlangen:
ach, wäre doch ein Musikus mir gut!
Nun ließ der Herr mich meinen Wunsch erlangen
und schickt mir einen, ganz wie Milch und Blut.
Da kommt er eben her mit sanfter Miene,
und senkt den Kopf - und spielt die Violine.
Masaccios mathematische Malerei
Das Fresko der Dreifaltigkeit in Santa Maria Novella in Florenz
Florenz ist die Stadt der Renaissance schlechthin. Hier konzipierte Filippo Brunelleschi seine Domkuppel, die ihre architektonischen Geheimnisse bis heute nicht vollständig preisgibt. Hier modellierte Donatello mit seinem David die erste nachantike vollplastische Figur, und hier malte Masaccio jenes Bild, in dem die Perspektive erstmals in der abendländischen Malerei mathematisch berechnet ist.
Die Domkuppel gilt unverändert als Meisterleistung der Architektur. Sie scheint über dem Dom zu schweben und dominiert bis heute die Silhouette von Florenz. Der David Michelangelos hat dem kleinen Vorläufer Donatellos allerdings längst den Rang abgelaufen, und perspektivisches Zeichnen ist uns heute eine Selbstverständlichkeit. So kann es gut passieren, daß wir in Santa Maria Novella, der Florentiner Dominikanerkirche, achtlos an dem Fresko der Hl. Dreifaltigkeit vorbeigehen, das weder durch spektakuläre Farbigkeit noch durch einen sensationellen Bildgegenstand die Blicke auf sich zieht - und dennoch die Malerei revolutioniert hat. Denn ohne die Entdeckung der Zentralperspektive wäre es nie zur Darstellung eines mathematisch genau berechneten Raumes oder eines ebenso konstruierten Gegenstandes gekommen. Beides läßt sich nur mit Hilfe der perspektivischen Zeichnung exakt darstellen.
Natürlich ist diese Revolution nicht voraussetzungslos. Die Künstler der Antike kannten bereits perspektivische Verkürzungen, doch haben sie mit Erfahrungswerten gearbeitet und nicht mathematisch exakte Berechnungen angestellt. Das Mittelalter interessierte sich nicht für perspektivisch richtige Darstellungen. Entscheidend war, die Größe Gottes ins Bild zu setzen. Deshalb spricht man bei mittelalterlichen Bildern auch oft von «Bedeutungsperspektive». Das heißt - wie der Name schon besagt -, der bedeutendste Gegenstand wird am größten dargestellt.
Brunelleschis Perspektivexperiment
Erst als der Mensch wieder stärker ins Interesse rückte, wurden perspektivische Darstellungen wichtig. Giotto, der als einer der Überwinder mittelalterlicher Malerei gilt, versuchte sich darin ebenso wie etliche Maler in den Niederlanden, doch die mathematische Berechnung gelang erst dem Meister der Florentiner Domkuppel, dem Architekten Filippo Brunelleschi. Er teilte sein Wissen dem jungen Freund, dem Maler Tommaso di Ser Giovanni di Monte Cassai, genannt Masaccio, mit. Und wahrscheinlich hat Brunelleschi für das eine, das berühmte Fresko der Hl. Dreifaltigkeit in Santa Maria Novella selbst die Berechnungen geliefert.
Seine Biographen haben Brunelleschi nicht nur die Bezeichnungen Architekt, Bildhauer und Goldschmied beigelegt, sondern auch die des «inventore», des Erfinders. Und als solcher entwickelte er ein Verfahren, zentralperspektivisch zu konstruieren. Die Zeichnungen, die seine derartigen Experimente belegen, sind zwar nicht erhalten, doch beschreibt sein Biograph Antonio Manetti, dem wir bei dem Wettbewerb um die Florentiner Baptisteriumstüren bereits als einem gewissenhaften Chronisten begegneten, Brunelleschis Bemühungen.
Wohl kurz nach Ausgang des Wettbewerbs um die Tür des Baptisteriums, etwa um 1404, hielt Brunelleschi das Baptisterium und seine Umgebung fest, gesehen vom Inneren des Domes aus. Wahrscheinlich benutzte er dabei als Konstruktionshilfe das von Leon Battista Alberti beschriebene Fadennetz. Dieses Fadennetz war vermutlich in das mittlere Domportal gespannt, sodann in einigem Abstand eine Platte mit einem Loch in Augenhöhe angebracht. Durch dieses schaute der Zeichner durch und zeichnete Quadrat für Quadrat den darin sichtbaren Teil des Baptisteriums ab. So erhielt er eine verkleinerte, perspektivisch genaue Darstellung der freistehenden achteckigen Taufkapelle.
Die Konstruktion von Masaccios Dreifaltigkeit
Man weiß, daß Brunelleschi mit Paolo dal Pozzo Toscanelli, dem bedeutendsten Florentiner Mathematiker, Kontakt hatte, ebenso mit den herausragenden Humanisten, also Niccolò Niccoli, Giannozzo Manetti und wahrscheinlich auch Leonardo Bruni, sowie mit den Künstlerkollegen Donatello, Alberti und Masaccio. Diesen Masaccio würden wir heute einen Frühvollendeten nennen.
Am 21. Dezember 1401 in San Giovanni di Valdarno, einem kleinen toskanischen Städtchen in der Nähe von Arezzo, als Sohn eines Notars geboren, läßt sich der Lebenslauf nur teilweise rekonstruieren. Bei wem Tommaso di Monte Cassai das Malerhandwerk erlernte, ist nicht bekannt. Das hat zu zahlreichen Spekulationen geführt ebenso wie die Frage nach der Bedeutung seines Spitznamens. «Masaccio» heißt soviel wie «plumper Thomas». Bezog sich das auf sein Aussehen, auf die Art seiner Malerei oder auf sein Verhalten, wie sein erster Biograph Vasari meint? Doch sind dies nicht die einzigen Fragen, die im Zusammenhang mit dem Maler bislang unbeantwortet geblieben sind. Die Biographie Masaccios bleibt in vielen Punkten dunkel.
1422 wird sein Name in den Büchern der Zunft der Medici e Speciali (Ärzte und Apotheker) erwähnt. In dieser Zunft waren auch die Maler organisiert, da sie als Farbenreiber mit ähnlichen Materialien umgingen wie die Apotheker. Zu dem genannten Zeitpunkt war Masaccio also in Florenz bereits als Maler tätig. 1427 erfahren wir durch eine Steuererklärung, daß Masaccio im Viertel von Santa Croce zusammen mit seiner verwitweten Mutter und dem Bruder Giovanni ein kleines Haus bewohnte. Außerdem besaß er eine Werkstatt - aber auch Schulden. Sie mögen mit seinem Auftrag der Ausmalung der Brancacci-Kapelle zu tun gehabt haben. Denn 1427 wurde eine Vermögenssteuer eingeführt, die etliche reiche Florentiner Familien hart traf. Aufgrund der hohen Steuern konnten sie ihren übrigen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen. Einer der Betroffenen war Felice Brancacci, der die Ausmalung seiner Familienkapelle in Santa Maria delle Carmine nicht mehr bezahlen konnte. Leidtragender war Masaccio, der ausführende Maler.
Santa Maria Novella, Florenz
Vier Jahre lang hatte er, wahrscheinlich gemeinsam mit dem achzehn Jahre älteren Masolino, an den Fresken gemalt. Die Zusammenarbeit war vermutlich nicht - wie so oft behauptet wird - aus einem Lehrer-Schüler-Verhältnis entstanden, sondern hatte sich durch den gemeinsamen Herkunftsort ergeben. Zwei Maler aus dem kleinen San Giovanni Valdarno, die beide in Florenz lebten, kannten sich natürlich, auch wenn der Altersunterschied groß war. Und wenn der eine einen Auftrag erhielt, bei dem er Hilfe brauchte, so lag es nahe, sich an den anderen zu wenden.
Masolino ist noch stark dem weichen Stil der Internationalen Gotik verpflichtet, während Masaccio diesen Stil bereits zu überwinden sucht. Kann man sich die Zusammenarbeit dergestalt vorstellen, daß sich in der Brancacci-Kapelle der Ältere dem Jüngeren angepaßt hat, um später wieder zu seinem alten Stil zurückzukehren? Nach menschlichem Ermessen wohl kaum. Die Anteile der beiden Maler sind trotz Restaurierung und genauer Analyse der Fresken immer noch nicht genau geklärt, doch dürfte Masaccio eine größere Rolle gespielt haben als Masolino, der zwischen 1425 und 1428 nach Rom übersiedelte. Masaccio ist dem Malerkollegen dorthin gefolgt. Das Gerücht, er sei in Rom vergiftet worden, gehört wie so vieles in seiner Biographie in den Bereich der nicht mehr nachprüfbaren Spekulation. Anders ist es mit dem Todesdatum selbst. Überliefert ist, daß er mit 27 Jahren starb. Deshalb kann man überall das Todesdatum 1428 lesen. Doch da Masaccio im Dezember Geburtstag hatte, kann er ebensogut im Jahr 1429 gestorben sein. Und da nach neueren Erkenntnissen unser Fresko 1429 vollendet wurde, wird der Maler wohl erst 1429 nach Rom abgereist und dort verstorben sein.
Die Datierung des Freskos in der Dominikanerkirche Santa Maria Novella mit der Darstellung der Hl. Dreifaltigkeit erschließt sich durch eine Inschrift. Wir kommen darauf zurück. Doch bevor wir hierauf eingehen, sollten wir das Bild selbst betrachten. Wenn der Betrachter auf einem im Fußboden genau bezeichneten Punkt etwa fünf Meter vom Bild entfernt steht, sieht er folgendes: Unter einem von Säulen getragenen Wandvorsprung steht auf einer Steinplatte ein Sarkophag, auf dem ein Skelett liegt. In der Nische, in die der Sarkophag ein Stück eingerückt ist, kann man über dem Skelett die Worte «Io Fv Ga Qvel Che Voi Sete E Qvel Chi Son Voi Aco Sarete» lesen, die übersetzt «Ich war einst, was ihr seid; und was ich bin, werdet ihr einmal sein» bedeuten.
Auf dem Wandvorsprung über dem Sarkophag knien links ein Mann, der einen roten Mantel trägt, rechts eine Frau in einem blauen Mantel. Beide haben die Hände zum Gebet gefaltet und blicken sich an, sind also vom Betrachter aus im Profil zu sehen. Hinter ihnen erheben sich kannelierte Pilaster (das heißt mit Eintiefungen versehene Wandvorlagen), deren rote Kapitelle ein Gebälk tragen. Diese Architektur bildet den Rahmen für einen tonnengewölbten Raum, der sich mit einem von Säulen getragenen Rundbogen zum Kirchenraum hin öffnet. Am anderen Ende des Raumes wird ein weiterer von Säulen getragener Rundbogen sichtbar. Die Bögen stützen die mit Kassetten versehene Tonne.
In der Mitte dieser Kapelle sieht man den Gekreuzigten. Obwohl das Kreuz realiter auf einem großen Fuß steht, der als Bergspitze ausgebildet ist, werden die Querbalken des Kreuzes und die Arme Christi von Gottvater umfangen, der auf einem Podest steht. Unter einem blauen Mantel trägt er ein rotes Gewand. Zwischen seinem Kopf und dem Kopf des Gottessohns schwebt die Taube des Hl. Geistes. Gerahmt wird diese Gruppe von der Muttergottes und Johannes dem Evangelisten. Johannes im roten Gewand hat die Hände gefaltet und betet die Hl. Dreifaltigkeit an. Die blau gekleidete Maria hingegen blickt hinaus aus der Kapelle zum Betrachter und weist ihn mit ihrer rechten Hand auf die Dreifaltigkeit hin.
Lange Zeit wurde die Bedeutung des Freskos nicht erkannt. Das war nicht weiter erstaunlich, da es seit dem 16.Jahrhundert durch ein Bild verdeckt und im 19. Jahrhundert - allerdings nur zu Teilen - abgenommen und an der Innenseite der Fassade angebracht worden war. Die rahmende Scheinarchitektur und das Skelett hatte man übermalt. Sie wurden erst 1952 wiederentdeckt. Damals versetzte man das Fresko wieder an seinen alten Standort im dritten Joch an der linken Langhauswand. Und erst jetzt wurde wirklich klar, mit welch bedeutendem Werk man es hier zu tun hatte, denn nun konnte man wieder den Standpunkt bestimmen, von dem aus die gemalte Kapelle ein realer Ort zu sein scheint. Eine Datierung zwischen 1426 und 1428 galt die folgenden Jahrzehnte als sicher, bis die Inschrift über dem Skelett als Krypto- und Chronogramm erkannt wurde.
Ein Kryptogramm ist eine Inschrift, bei der fehlende oder besonders gekennzeichnete Buchstaben zusätzliche Informationen bieten. Handelt es sich dabei um eine Datierung, spricht man von einem Chronogramm.
Ergänzt man die fehlenden Buchstaben, wird der Inhalt der Inschrift leichter erfaßbar: «lo Fv Gia Qvel Che Voi Siete E Qvel Chi Sono Voi Ancora Sarete.» In anderer Reihenfolge gelesen, ergeben diese Buchstaben «INRI» und «A» sowie «O», also einmal die Inschrift, die normalerweise über dem Kreuz Christi angebracht ist und die Abkürzung für «Jesus von Nazareth, König der Juden» ist, zum anderen die lateinische Umschreibung für die griechischen Buchstaben Alpha und Omega. Sie symbolisieren im Christentum Anfang und Ende und betonen so die Bedeutung der Inschrift noch einmal. Beide, «INRI» wie «A» und «O», sind wichtig für die Bedeutung des Bildes, die Ausgangspunkt für die zentralperspektivische Konstruktion war.
Doch bevor wir das klären, sollte noch das Chronogramm entziffert werden. Addiert man alle in der Inschrift vorkommenden römischen Zahlenbuchstaben (IVVLCVIVLCIVIC), so ergibt sich die Zahl (1)429. 1429 ist insofern ein bemerkenswertes Datum, als Brunelleschi zu diesem Zeitpunkt mit der Planung der Pazzi-Kapelle im Kreuzgang von Santa Croce begann. Die von ihm konzipierte Alte Sakristei in der Kirche San Lorenzo war damals schon vollendet. Beide Bauten zeigen einen ähnlichen Aufbau wie die in dem Fresko gemalte Kapelle, mit der Ausnahme, daß sie überkuppelt sind. Doch in der Pazzi-Kapelle gibt es ebenfalls die kleinen tonnengewölbten Seitenarme, die wie die Kapelle des Freskos eine Kassettendecke besitzen.
Längst wurde erkannt, daß Masaccios Fresko die gebaute Architektur Brunelleschis vorwegnimmt, allerdings ohne zu sehen, daß beide Konzepte denselben Urheber haben. Unter der Malschicht des Freskos, das wir soeben wie einen realen Raum beschrieben haben, befindet sich ein Liniennetz, mit dessen Hilfe Masaccio die perspektivische Konstruktion gelang. Dieses Liniennetz aber lieferte ihm sehr wahrscheinlich Brunelleschi, erinnert es doch exakt an das beschriebene Quadratraster für seine Zeichnung des Baptisteriums.
Abgesehen von der Konstruktion scheint Brunelleschi dem so viel jüngeren Maler aber noch weitere Anregungen geliefert zu haben. Vielleicht hat Brunelleschi dem jungen Masaccio beim Entwurf der Kapelle geholfen, vielleicht sogar die Skizzen geliefert, die Masaccio dann ausführte. Wie sehr Brunelleschi auf den jungen Maler eingewirkt hat, ist schließlich daran zu ermessen, daß nicht nur die gemalte Architektur, sondern auch das Bild des Gekreuzigten Parallelen zu einem Werk Brunelleschis aufweist. Um 1410/15 entstand der hölzerne Kruzifix des späteren Dombaumeisters. Dieser Kruzifix befand sich bereits in der Kirche Santa Maria Novella, als Masaccio das Fresko mit der Hl. Dreifaltigkeit malte. Und der gemalte Kruzifix ist - mit Ausnahme des Lendenschurzes - ein Doppelgänger des plastischen.
Warum aber wählten Masaccio und Brunelleschi ausgerechnet diesen Bildgegenstand, um daran die Konstruktion der Zentralperspektive auszuprobieren? Mit dieser Frage kommen wir noch einmal auf die Darstellung selbst zurück. Denn mit dem Titel der Hl. Dreifaltigkeit ist nur die mittlere Personengruppe bestimmt, nämlich Gottvater, Sohn und Heiliger Geist. Doch sind noch weitaus mehr Personen zu sehen, und es gibt die berechtigte Annahme, daß der Inhalt des Bildes Anlaß für den Versuch der perspektivischen Konstruktion war.
Unterhalb des gemalten Raums befindet sich das Skelett mit der Inschrift. Ein Skelett in Verbindung mit dem Gekreuzigten kann nur Adam sein. Denn die Legende berichtet, daß Christus über dem Grab Adams gekreuzigt wurde. Das Kreuz innerhalb der Kapelle steht auf einer Bergspitze, die in den Raum hineinragt. Damit kann nur die Golgota-Kapelle in Jerusalem gemeint sein, unter der sich die Adamskapelle befindet. Vom Kircheninnenraum blickt der Betrachter in die Kapelle und in den darunter liegenden Raum. Diesen realen Raum teilt er sich mit den gemalten Stifterfiguren, die sich dort zu befinden scheinen, wenn auch erhöht.
Die beiden Assistenzfiguren Maria und Johannes, die zu jeder Kreuzigungsgruppe dazu gehören, stehen höher als die Stifter. Außerdem befinden sie sich bereits in der Kapelle. Sie sind die Vermittler zwischen Christus und den Menschen, in diesem Fall den Stiftern respektive dem Betrachter. Interessant sind aber auch die Beziehungen, die in den farbgleichen Gewändern anklingen. Der Stifter im roten Mantel kniet rechts von Christus, befindet sich also mit der blau gekleideten Maria und nicht dem rot gewandeten Johannes auf derselben Seite. Ihn jedoch betet der Stifter an, damit er seine Bitte an den Gekreuzigten weiterleite, ebenso wie sich die blau gekleidete Frau quer über das Bild hin an Maria wendet. Rot und blau gemeinsam trägt allein Gottvater, und zwar erneut die Seiten verkehrend, so daß beide Farben mehrfach im Wechsel zu sehen sind.
Die Gruppe der Dreifaltigkeit bildet über diese Beziehungen farblich also eine Einheit mit der Kreuzigungsgruppe. In der Kreuzigung offenbart sich die menschliche Natur Christi, in der Dreifaltigkeit hingegen seine göttliche Natur. In dem Bild insgesamt wird also auf die beiden Naturen Christi verwiesen und damit auf das speziell in Santa Maria Novella gefeierte Corpus-Domini-Fest, das 1425 gerade durch ein neues Stadtgesetz erneuert worden war. Vielleicht hing mit diesem Gesetz sogar der Auftrag für das Fresko zusammen. Die verschiedenen Ebenen hat Masaccio jedenfalls durch die Architektur, durch die himmlische Kapelle, meisterlich verschränkt.
Maria und Johannes als Vertreter der Menschen im Himmel sind zwar schon aus der realen Welt entrückt, aber nicht ganz so weit entfernt, nicht ganz so weit oben, nicht ganz so groß wie die Hl. Dreifaltigkeit. Es ist deshalb anzunehmen, daß die Aufgabenstellung zu der perspektivischen Darstellung führte, daß Masaccio und Brunelleschi die dem Maler gestellte Aufgabe zum Anlaß nahmen, die neuen Erkenntnisse des Architekten in Malerei umzusetzen. Dies ist ihnen auf hervorragende Weise gelungen und zeigt einmal mehr, daß die Aufgabenstellung dazu animiert, neue Wege zu beschreiten.
Sieben Jahre nach Masaccios Tod, 1436, widmete der Architekt und Theoretiker Leon Battista Alberti sein Malereitraktat, in dem er die Konstruktion der Zentralperspektive beschrieb, nicht etwa Masaccio, den Maler der Hl. Dreifaltigkeit, sondern Filippo Brunelleschi. Damit hat er dem Urheber der Zentralperspektive auch ein literarisches Denkmal gesetzt.
Quelle: Susanna Partsch: Sternstunden der Kunst. Von Nofretete bis Andy Warhol, C.H. Beck, München 2003, ISBN 3 406 49412 9. Zitiert wurde Seite 94-102 [Leseprobe]
Das Libretto des Italienischen Liederbuches als Online-Ausgabe
CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 60 MB
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Reposted on July 25, 2014
Die CD Info enthält als Bonus den Aufsatz von Bernhard Siegert: (Nicht) Am Ort. Zum Raster als Kulturtechnik. Sonderdruck aus: Thesis, Wissenschaftliche Zeitschrift der Bauhaus-Universität Weimar, (2003) Heft 3
4 Kommentare:
Thanks so much for this one. Really appreciate having this classic recording in its most recent incarnation.
I have seen this recording often compared to an earlier one with F-D and Imgaard Seefried. I wish DG would bring back that recording into the catalog.
Thanks again.
Best,
William
Hello! My name is Ashot Arakelyan, I'm the owner of the blog http://forgottenoperasingers.narod2.ru
I have a request to you. Can we exchange links of our blogs by adding in the link section.
All the best
Ashot
die beschreibung geht leider nicht, falls von interesse
aber danke für die hervorragende pdf! nicht am ort
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