13. Januar 2017

Franz Berwald (1796-1868): Gesamtwerk für Klavierquintett

Schweden konnte im frühen 19. Jahrhundert nur ein kümmerliches Musikleben vorweisen, das sich selbst in der Hauptstadt Stockholm auf provinzielle Ausmaße beschränkte. Von der Blütezeit der Künste unter der Herrschaft Gustavs III. einige Jahrzehnte zuvor war nicht viel übrig geblieben. Dessen Sohn Gustav IV. Adolphus zeigte nicht das geringste Interesse an Musik oder Kunst, und unter seiner Herrschaft war das Orchester des Opernhauses das einzige professionelle im ganzen Land. Schweden hatte damals kaum eine eigene sinfonische Tradition, und das Publikum begegnete der Orchestermusik nur dann mit Aufgeschlossenheit, wenn sie von ausländischen Komponisten stammte. Folglich beschränkten sich die meisten schwedischen Komponisten auf kleinere Genres und schufen gefällige, oft anspruchslose Lieder oder Klaviermusik. Solch intime Musik war nicht für die Konzertbühne, sondern für die Wohnzimmer der gebildeten Mittelklasse bestimmt. Sinfonien waren dort selbstverständlich gar nicht zu hören, es sei denn in Arrangements für Klavier zu vier Händen.

Aus diesem Grunde wurde auch Franz Berwald, der sich in erster Linie durch seine Sinfonien auszeichnete, zu Lebzeiten in seinem Heimatland nicht gebührend gewürdigt. Heute hingegen kann niemand mehr abstreiten, daß er die musikalische Leuchtfigur im Schweden des letzten Jahrhunderts war, und für viele wird er immer der bedeutendste Komponist bleiben, den sein Heimatland hervorgebracht hat.

Berwald fühlte sich in den musikalischen Kreisen seines Heimatlandes mit ihren antiquierten Vorstellungen verständlicherweise nicht wohl. Daher zog er 1829 als 33-jähriger Mann nach Berlin. Da er sich als Musiker nicht finanzieren konnte, arbeitete er als orthopädischer Chirurg. In diesem Beruf war er erfolgreich und unterhielt ab 1835 eine eigene Praxis. In seiner Freizeit komponierte er, obwohl in diesen Jahren kaum vollständige Werke entstanden. Im Frühjahr 1841 schloß er seine Praxis und zog nach Wien. Die neue Stadt zeigte ein größeres Interesse an seiner Musik, und obwohl er nur ein Jahr in Wien lebte, schrieb er mehrere große Werke, u.a. zwei Sinfonien. Die überraschend freundliche Aufnahme in dieser kosmopolitischen Stadt ermutigte Berwald so sehr, daß er zu hoffen wagte, auch Schweden wäre nach 13-jähriger Abwesenheit bereit für seine Musik. Im April 1842 kam er mit Taschen voller neuer Manuskripte in Stockholm an.

Hier war die Enttäuschung allerdings groß. Schwedens Musikszene hatte sich während seiner Abwesenheit kaum verändert und erschien Berwald, der das reiche Konzertleben des Kontinents gewohnt war, um so provinzieller. Die wenigen Werke, die er aufführen konnte, fanden keine Anerkennung und wurden als einfallslos oder exzentrisch abgetan.

Von seinen vier Sinfonien wurde zu Lebzeiten nur eine einzige, die Sinfonie sérieuse, aufgeführt. Das Konzert war allerdings ein Fiasko. Das Orchester war viel zu klein und hatte die Sinfonie nicht gründlich einstudiert. Der Dirigent war ein Cousin Berwalds, mit dem er nicht auf gutem Fuße stand.

Im Jahre 1846 ging Berwald auf eine Auslandsreise, die ihn nach Paris, Süddeutschland, Salzburg und Wien führte. Er wurde überall mit offenen Armen empfangen, vor allem in Wien, wo er zum Ehrenmitglied des Mozarteums ernannt wurde.
Geldnot zwang ihn zur Rückkehr nach Schweden, wo er sich 1849 dauerhaft niederließ. Die folgenden Jahre betrieb er eine Glasfabrik im Norden des Landes, verbrachte aber dennoch die Winter in Stockholm, wo er an kammermusikalischen Aufführungen in den Salons der musikliebenden Familien teilnahm.

Franz Berwald (1796-1868)
In dieser Zeit begann er sich fast ausschließlich der Kammermusik zu widmen. Zwei Klavierquintette, zwei Streichquartette, drei Klaviertrios sowie Sonaten für Violine oder Cello und Klavier entstanden in den zehn Jahren nach seiner Rückkehr.

Berwald hatte als junger Mann einige Jahre lang im Orchester des Opernhauses Geige gespielt, hatte aber wesentlich weniger praktische Erfahrung mit dem Klavier. Die Schreibweise eines Schumann oder Mendelssohn scheint ihm nicht geläufig gewesen zu sein, und dementsprechend unpianistisch waren seine Klavierparts. Daß er überhaupt immer wieder für das Instrument schrieb, lag vermutlich daran, daß die meisten privaten Ensembles Zugang zu einem Klavier hatten. Darüberhinaus verdankte er sein Interesse an der Kammermusik mit Klavier einer hochbegabten Schülerin, Hilda Thegerström, die nach ihrem Studium in Paris und bei Pranz Liszt in Weimar Schwedens führende Pianistin wurde.

Für Frau Thegerström komponierte Berwald sein Klavierquintett in c-Moll. Der Komponist nannte das Quintett von Anfang an das "zweite Quintett", woraus hervorgeht, daß er das 1857 vollendete Quintett in A-Dur vor seinem Schwesterwerk, vermutlich um das Jahr 1850 begann. Wahrscheinlich schloß es dann auch die beiden Sätze Larghetto und Scherzo ein, denn sie haben einzeln überlebt und folgen in ihrem ursprünglichen Manuskript den Schlußtakten aus dem ersten Satz des A-Dur-Quintetts.

Wie bereits Bach und Händel vor ihm, entlehnt Berwald in beiden Finalsätzen Material aus eigenen früheren Werken, der sinfonischen Dichtung Wettlauf und der Ouvertüre Bajadärfesten, beide aus dem Jahre 1842.

Als Betwald 1857 Liszt besuchte, nahm er sein Quintett in c-Moll mit. Liszt spielte es sofort am Klavier durch, und Berwald schrieb später: "Ich hatte die Gelegenheit, mein Quintett gespielt zu hören ... von einem wahrhaft poetischen Meister. Was für eine Musik! Nicht nur ein Klavier, sondern ein ganzes Orchester. Ich werde seinen Namen niemals vergessen."

Aus Dankbarkeit widmete er Liszt sein Quintett in A-Dur. Als Liszt das veröffentlichte Werk im folgenden Februar erhielt, schrieb er an Berwald: "Sie drücken sich in einer einfallsreichen, kunstvollen und lebhaften Sprache aus. Ihre Durchführungen und Reprisen sind von Meisterhand geführt, und Ihr Stil ist sowohl elegant als auch harmonisch interessant. Ich kann über Ihre Arbeit sagen, daß sie sich durch Einfallsreichtum und einen besonders ausgeprägten Sinn für Durchführungen auszeichnet. Sie werden der Kunst gerecht und lassen sich gleichzeitig von Ihrem gesunden Menschenverstand leiten." Im selben Brief ließ er sich auch über den mangelnden Verstand des Publikums aus, über welches er schrieb: "Sie haben Ohren, hören aber nichts". Er legte Berwald nahe, sich davon nicht beirren zu lassen, und sich selbst auf die Gefahr hin, daß die Anerkennung zu Lebzeiten ausbleibt, beim Komponieren nur vom Herzen und der Fantasie leiten zu lassen.

Das Quintett in c-Moll wurde mehrmals mit Hilda Thegerström am Klavier aufgeführt, öffentlich allerdings erst 1874. Das Quintett in A-Dur wurde vermutlich 1895 durch das Aulin-Quartett und Wilhelm Stenhammar uraufgeführt.

Quelle: Sven Kruckenberg [Übersetzung: Eva Grant], im Booklet

Walter Moras (1856-1925): Sommerabend an südnorwegischer Küste in den Schären. Öl auf Leinwand, 60 x 125,5 cm

TRACKLIST

Franz BERWALD 
(1796-1868) 

Complete Works for Piano Quintet 

Piano Quintet No. 1 in C minor                                25:31 
(1) Allegro molto - Scherzo (Poco allegretto) - Molto allegro  7:23
(2) Adagio quasi andante                                       8:30
(3) Allegro assai e con spirito                                9:39

Piano Quintet No. 2 in A major                                31:48
(4) Allegro con gusto                                          9:54
(5) Allegro vivace                                             7:40
(6) Poco andante                                               7:16
(7) Allegro molto                                              6:58

Two movements from a Piano Quintet in A major 
(8) Larghetto                                                  5:31
(9) Scherzo (Allegro vivace)                                   7:29 

                                                 Playing Time 70:36 
Uppsala Chamber Soloists 
Bengt-Åke Lundin, Piano 

Recorded in the Alfvén Hall, Uppsala from 11th to 13th July, 1996. 
Producer and engineer: Jan-Eric Persson 
Cover Painting: Walter Moras (1856-1925): Sommerabend an südnorwegischer
Küste in den Schären.

(P) 1997 (C) 2000


Unterwerfung und Messung



Der Rahmen und der Akt bei Dürer und Duchamp

Albrecht Dürer, Der Zeichner des liegenden Weibes, 1538, Holzschnitt, 75 x 215 mm, Staatliche Museen zu Berlin,
 Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett.
Der binäre Rahmen wäre die bessere Wahl gewesen. Doch es kam nicht dazu. Der gewöhnliche, einfache setzte sich durch und durfte das Szenario der Kunstgeschichte fortan prägen. Eigentlich ist der Rahmen lediglich ein Werkzeug, mit dem Felder umrissen werden. Doch die Ausschnitte, die er markiert, haben verschieden bewertete ontologische Zonen. Sobald der Rahmen um ein Bild montiert wird, wissen wir nämlich, welche Welt fiktiv und welche faktisch ist. Er ist damit ein "Scheideinstrument" besonderer Art, wenn er die Grenze zwischen Innen und Außen angibt - zwischen Bild und Nicht-Bild - und so auch zwischen Moral und Unmoral unterscheidet. Was sich im gerahmten Feld abspielt, ist die erfundene oder unendlich verfügbare Welt. Was sich außerhalb tut, ist das Vor-Bild oder schlicht die Wirklichkeit, die Vorbildwirkung besitzt.

Wer ein Bild in diesem Sinne betrachtet, hat schon verstanden, daß es niemals die reine Wirklichkeit spiegelt, sondern zurecht gemachte Realität. Dies zu erkennen, und dem Gemalten dennoch den Anschein des Realen zu geben, war wahrscheinlich die bedeutendste Errungenschaft der Renaissance. Das Tafelbild, das damals erfunden wurde, bedurfte des Rahmens aus Gründen seiner Mobilität. Dies sollte aber im folgenden weniger interessieren, als die Tatsache, daß der Rahmen für das Bild auch Schutz bot, vor einer Außenwelt und auch vor sich selber. Die umschließende Grenze des neuzeitliches Bildes garantierte, das es sich nicht auswuchs. Mit seiner geometrisierenden Schneise gewann die Renaissance nämlich ein Mittel, sich fremder und unliebsamer Bedeutungen zu entledigen. Das Hintere, das Abseitige, das Obskure (auch das Transzendente), das die mittelalterliche Kunst stets anwesend dachte, war von der geometrischen Perspektive buchstäblich zu den Seiten abgedrängt oder negiert worden. Denn die Perspektive war das wirksamste und beste "Apotropaion".

Die Renaissance-Gemälde waren damit zu einer blickgerichteten Bühne geworden, auf der sich das neuzeitliche Subjekt ein Gegenüber schuf, um auf diese Art verdinglicht, die Welt in den Griff zu bekommen. Die Bühne war zu einer flachen Tafel geworden. Selbst die "Scenae frons", die Theaterwand der Renaissance war als Architektur gebildet, die sich wie die geometrische Illusion einer Malerei ausmacht. Gerade die Flachheit ermöglichte die Illusion der Tiefe als Raum. Und die selbe Flachheit verhinderte den Hinweis auf die Untiefe als menschliche Bewandtnis. Das Andere der Szene, das unter der Oberfläche liegende, das Obskure, das Bedrängende und Aufdringliche, konnte in dem abstrakten Raum der Geometrie niemand mehr sehen. Es war im "off" verschwunden. Ein Beispiel dafür ist die Sexualität. Die Herkunft des Wortes "obszön" gilt zwar als nicht eindeutig geklärt, am wahrscheinlichsten ist jedoch eine Modifikation des lateinischen "scena". Mitunter bezeichnet das "Obszöne" buchstäblich die "off scene", dasjenige, das auf der Bühne keinen Platz findet. Zugleich war dieses Verworfene wie immer notwendig, um das Reich innerhalb des Rahmens mit domestizierbaren Stoffen zu versorgen. Das Obszöne möge sich, so die Doktrin von Mimesis und Geometrie, außerhalb abspielen.

Cindy Sherman, Untitled Film Still # 34, 1979,
 Photographie, 101 x 76 cm, Privatbesitz.
Doch wir werden sehen, wie diese Rhetorik des Ausgrenzens nicht nur das Gegenteil bewirkte, sondern es auch nötig hatte, sich am Nicht-Szenischen zu "messen". In der Folge soll hier von einem "binären Rahmen" gesprochen werden. Dies ist ein Rahmen der besonderen Art, weil er wie ein Fenster wirkt, von dem auch der italienische Renaissance-Theoretiker der Malerei, L. B. Alberti, sprach, als er für das Tafelbild eine Metapher suchte. Der binäre Rahmen ist aber auch ein Rahmen, der Albertis einseitige Fensterlogik durchbricht, weil er ein Wechselverhältnis der beiden Seiten annimmt. Zwei Subjekte und zwei Szenen stehen einander gegenüber, nicht Subjekt und Objekt bzw. Subjekt und Szene. Von einem ständigen Umkehrverhältnis soll deshalb hier die Rede sein und von einer möglichen Historie der Destabilisierung der Ordnung.

Unsere Geschichte beginnt mit einem äußerst brisanten, weil sich selbst thematisierenden Versuch künstlerischer Zurechtmachung. Albrecht Dürer, der bedeutendste Renaissance Künstler des Nordens, führt uns in die Problematik der Perspektive ein. Es ist ein methodisches Lehrstück, das wir zu sehen bekommen, zugleich ein Beispiel aus seinem Alterswerk, aber eigentlich eine Illustration zu dem Buch Die Underweysung in der Messung, das sich an angehende junge Maler wandte. Auf seinem seltsam quer-echteckigen Holzschnitt, der vor der Einführung des Cinemascope nicht anders als zweigeteilt gelesen werden kann, sitzt ein kauziger Künstler rechts an seinem Zeichentisch. Er blickt sehr konzentriert durch einen Rahmen, der in der Mitte des Tisches aufgestellt ist. Auf der gegenüberliegenden Seite sieht man eine sich räkelnde Frau, die nur ein Leinentuch um ihren nackten Körper geschwungen trägt. Ungleich ist das Paar nicht nur durch sein Sitzen und ihr Liegen (auf dem Tisch). Ungleich ist vor allem sein Blick durch das gerahmte Fenster, das in der Mitte dieser Szene platziert ist. Nicht allein, daß hier jemand beobachtet, jemand anderen, der sich ob der verdrehten Pose nicht beobachten kann, die Frau wird auch noch vom Zeichner/Künstler vermessen, als gehöre sie einer distanzierten Objektwelt an.

Der Stich ist ein hervorragendes Zeugnis geometrischer Konstruktion und auch eine erstaunliche Leistung ihrer Darstellung als Bild im Bild. Gemäß diesem höheren Ziel wurde das Motiv auch wie zufällig gewählt. Es ist diesmal eine halb entblößte Frau, ein andermal kann es aber auch eine Laute sein. Was beide Sujets befähigt, bildwürdig zu werden, ist schnell erforscht und ganz profan. Rahmen und Raster sind eckig, Frauen und Lauten nicht. Dürer wählte die beiden Motive, weil sie seine Konstruktionsmethode der Geometrie durch Krümmungen und Kurven besonders herausforderten. Diese Widerstände werden jedoch - wie zu beweisen ist - bravourös gemeistert. Voraussetzung für das Gelingen ist freilich die Einhaltung der Regeln und eine rigide mathematische Annäherung. Und zwar eine Annäherung, die Gesehenes vom Sehenden klar zu differenzieren weiß. Demzufolge wird auch geschieden zwischen den Seiten rechts und links, Subjekt und Objekt, zwischen den Zonen vorne und hinten, zwischen Zeichner und Motiv, zwischen Mann und Frau, zwischen aufgerichtet und liegend, zwischen bekleidet und entblößt, zwischen eckig und rund und vieles andere mehr.

Es handelt sich durchwegs um Gegenüberstellungen, die man mit Jacques Derrida auch als "binäre Oppositionen" begreifen müßte. Derrida meinte, daß die gesamte metaphysische Tradition des Denkens von solchen Paaren geprägt sei. So weit wie der französische Philosoph müssen wir hier nicht greifen. Folgen können wir ihm jedoch in der Beobachtung, daß es sich bei derartigen Gegenüberstellungen um Konstruktionen handelt, bei denen jeweils der erste Teil der Paare bevorzugt wird. Ziel von Derridas Denkansatz ist es nämlich, diese Hierarchien zeitweilig umzukehren und damit außer Kraft zu setzen. Derrida pflegt für sein "Dekonstruktion" genanntes Verfahrens eine Art methodenloser Methode, innerhalb der er die Paare nicht von einem außen liegenden Standpunkt kritisiert, sondern gewissermaßen von innen her in Bewegung versetzt. Ausgangspunkt sind zumeist versteckte, oft quer zur Autorenintention liegende Anhaltspunkte und irritierende Details, von denen aus die Stabilität der Terme aus den Angeln gehoben werden kann.

Andre Breton - L'ecriture automatique, 1938,
Photographie.
Auch Dürers Stich enthält solche Details, die gleichsam die Perfektion und innere Stimmigkeit unterspülen. Wer sich also von der nüchternen Symmetrie der binären Komposition nicht gleich vereinnahmen läßt, und näher blickt, wird bemerken, daß die Absicht des Zeichners, ein Bild der Frau zu bannen, so angelegt ist, daß es eigentlich fast nicht gelingen kann. Die Frau sprengt den einfachen Rahmen. Ihre wahre Konur, z. B. der Schenkel und Knie, scheint hinaus zu greifen. Die Macht ihrer Fülle, die schon die Machtfülle erahnen läßt, von der Freud viel später in seinen Aufsätzen zur Weiblichkeit reden wird, wird diesem genaueren Blick gewahr. Das Herausdrängen des weiblichen Körpers aus dem Rahmenwerk ist weder Ungeschick noch mangelhaftes Können. Wer könnte dies einem alten Meister wie Dürer unterstellen? Nein, es ist die ihm bereits über das Bild prekär gewordene Ahnung, daß diese Konstellation, die Begegnung mit der Frau auf dem Tisch, nicht ohne Fehlstellen und Systemfehler zu formatieren ist. Dürer unterdrückt und weiß zugleich, daß diese Szene, die zum Bild werden soll, eine "off scene" ist und wohl auch Obszönes enthält, das durch seine Bildwerdung zwar nobilitiert, aber nicht endgülig getilgt werden kann.

Die Abseitigkeiten können nur versteckt werden, in dem minutiös und ausführlich auf die darstellungstechnischen Ziele hingewiesen wird. Der Zeichner erblickt das Modell von unten, und über diese (eigentlich befremdliche und zugleich äußerst intime) Seheinstellung zeigt er uns dieses als etwas, das formal (aus seiner Sicht gesehen) höchste Anforderungen stellt. In der Tat zeigt sich ihm der zu malende Akt in einer äußerst anspruchsvollen Stellung, die durch ihre extremen Verkürzungen doch weit schwieriger zu meistern ist als die Ansicht, die wir tatsächlich zu sehen bekommen. Die Überwindung dieser perspektivischen Probleme und das Herunterrechnen der dritten Dimension auf die zweite sind zweifelsfrei die Themen des Bildes. Der österreichische Kunsthistoriker Thomas Zaunschirm ist sogar der Meinung, es handle sich um ein "heimliches Leitbild" nicht nur für Dürer, sondern auch für die Kunstgeschichtsschreibung. Panofsky, dem wir wahrscheinlich die wichtigsten Studien zu Dürer und der Renaissance verdanken, hätte, so Zaunschirm, diesen Stich zwar niemals ausdrücklich besprochen, aber gerade das Ausbleiben der Erwähnung und die in diesem Bild überdeutliche Beschäftigung mit den Problemen der Perspektive als "symbolische Form" lasse darauf schließen, daß es sich um ein prägendes Werk handelte. Gerade die Nichterwähnung von etwas kann ja, wie Derrida nicht müde wird zu betonen, ein Hinweis für seine besondere Geltungsmacht werden, womit auf kuriose Weise argumentiert wäre, daß sich die Verdrängungslogik des neuzeitlichen Künstlers in der Kunstgeschichte und ihren Methoden fortsetzt.

Balthus, Große Komposition mit Raben, 1983/86,
 Öl auf Leinwand, 200 x 150 cm, Privatbesitz.
Diesen Überlegungen zu folgen, führe zu weit. Es ist hier eher bedeutsam, auf das Thema des Rahmens zurückzukommen. In Dürers Illustration ist er das Scharnier des Bildes und ein merkwürdiges Paradox, weil sich seine Grenze nicht außen und rundherum, sondern im Zentrum des Bildes befindet. Das Fenster im Bild ist zudem nicht opak, wie das Bild, das im Entstehen ist, es ist eine transparente Glasfläche. Damit erlaubt es die Durchsicht von beiden Seiten. Es ist ein "binärer Rahmen", der nach zwei Seiten hin offen und durchlässig ist. Judith Butler hat diesen Begriff einmal in ganz anderem Kontext verwendet, als es darum ging, die Asymmetrie der Geschlechterverhältnisse und ihrer jeweiligen Identitäten aus feministischer Perspektive zu kennzeichnen. Im "binären Rahmen" seien die Besonderheiten des Weiblichen erkennbar und eine Einschränkung des Repräsentationsdiskurses noch nicht vollzogen. Der binäre Rahmen birgt aber schon Vorentscheidungen, er steht an der Schwelle zur Entscheidung des hegemonialen Blicks. Denn in ihm kündige sich schon an, wie Identitätsbestimmung vor sich geht, und die Trennung eines Subjektes von einem anderen vollzogen werden kann.

Butlers Argumente von der allmählichen, schleichenden Verwandlung in feste Positionen, in Subjekte und Kategorisierungen, könnten wohl kaum besser verbildlicht werden, als durch die Darstellung der Unterweisung von Dürer. Insbesondere in der leichten Schrägstellung des Fensters zur Seite des Zeichners hin, wird die sich ankündigende Blickökonomie deutlich. Würde der Fensterrahmen korrekt im Zentrum platziert sein, würden wir den Regeln einer strengen Geometrie gehorchend nicht mehr als einen vertikalen Strich sehen. Um diese vollkommene Verflachung, mit der die Abstraktion der Moderne des 20. Jahrhunderts später gerne spielte, zu vermeiden, mußte Dürer den Rahmen leicht verzerrt einrichten. Infolge dieser geringfügigen Verschiebung nach rechts ändert er jedoch seinen symbolischen Gehalt. Der Rahmen spielt nicht mehr die Rolle des unentscheidbaren Dazwischen und wird parteiisch. Er markiert den Übergang der noch offenen Konstellation des binären Rahmens in den einfachen, der keine Wechselseitigkeit mehr beinhaltet. Der Zeichner nützt den Fensterrahmen als visierenden Blick, und als Schild für sich. Das Glas ist ein Bild-Schirm im doppelten Sinn des Wortes, Projektionsfläche und Abwehrgeste zugleich. Zudem gibt sich in seiner Rasterung zu erkennen, wie das Gesehene eingerichtet werden muß, um schließlich als Bild konstruiert und konserviert werden zu können. Die extreme Nähe der Entblößten zum gläsernen Rahmen des Zeichners ist dabei das irritierende Element. Das weibliche Modell erscheint in der Dürerschen Versuchsanordnung schon auf Distanz gehalten und quadriert, noch aber nicht zur Gänze zum Bild gebannt. Spätestens in der fertigen Zeichnung wird sich die vom Künstler gemusterte Frau in ein ausfüllendes Muster verwandelt haben.

Die Frage Butlers, wie nämlich Identitäten über Vorgänge der Benennung und Trennung erstellt werden, prägt die feministische Diskussion schon seit ihren Anfängen. Bereits bei Simone de Beauvoir war die Identität der Geschlechter eine Konstruktion nach dem Prinzip der Zuweisung. Beauvoir verfocht die These von der Geformtheit der Frau durch den Mann, eine These, die in dem berühmten Satz: "Man kommt nicht als Frau zur Welt, sondern wird es" auf den kürzesten Nenner gebracht war. Laura Mulvey, Filmemacherin der 70er Jahre, gilt als einer der ersten, die diese Überlegungen auch für die Kunst geltend machte. Mulvey unterschied zwischen Aktionssphären des Männlichen und Weiblichen, wobei sie den Gedanken Beauvoirs mit der Behauptung fortführte, daß es männliche Repräsentationssysteme seien, die den Mann als den Bezeichnenden, die Frau jedoch als das Unmarkierte deuten. So heißt es bei ihr ebenso kämpferisch wie programmatisch: "Frauen (...) stehen in der patriachalischen Kultur als Signifikanten des männlichen Anderen, gebunden an eine symbolische Ordnung", in der der Mann seine Obsessionen "dem stillen Bild der Frau aufbürdet, die auf ihren Platz gebunden wird als Träger von Bedeutung, nicht Ersteller von Bedeutung".

Lucio Fontana, Concetto spaziale, 1958, Acryl, Öl und
 Gold auf Leinwand, 101 x 81 cm, Colección de Arte
Contemporáneo de la Fundación la Caixa, Barcelona.
Am Beispiel des zeitgenössischen Film zeigte Mulvey, wie die Männer die Rolle der aktiven Agenten einnehmen, Frauen hingegen die passiven. In der filmischen Erzählauffassung mimen die Frauen die Ziele der männlichen Handlungsbereitschaft. Gemäß dieser relativ einfachen Geschlechterbinarität findet die Frau niemals zu gleichberechtigter Darstellung. Im Film kann ihr schon aufgrund des dort angelegten "männlichen Blicks", lediglich die Rolle zuteil werden, ab und an den narrativen Handlungsverlauf zu unterbrechen. Dieser Aufstand der Adressatin führt nicht zum prinzipiellen Umsturz der Ordnung, jedoch zu einer gewissen Bestürzung im Erzählverlauf. Indem sich die Frau der männlichen Zeichensetzung widersetzt, kommt es zu einem Kurzschluß und der maskuline Drang nach Handlung wird "aufgestaut". Dies sei ein sehr bedeutsamer Augenblick, so Mulvey, weil die Geschlechterdifferenz durch "einen Moment formaler und femininer Opulenz" irritiert wird. Kurz gesagt: Die Frau kann sich innerhalb des männlichen Blickregimes, das sie schon von vorne herein nur als Modell, also als exemplum begreift, nur insofern als Akteur einbringen, als sie dem maskulinen Verlangen nach Bildwerdung vorerst eigentlich nichts entgegen setzt, sondern sich damit begnügt, die an ihr statt habende Bedeutungsgenerierung fallweise zu unterbrechen. Darstellerisch gesprochen bedeutet dies, daß sie eine Art passiver Widerstand innerhalb des gesetzten "Rahmens" leistet, um mit diesem subversiven Akt der Unterwerfung/Unterweisung durch den männlichen Akteur zu entgehen.

Nicht übersehen werden sollte, daß dies unter der Voraussetzung des binären Rahmens möglich ist, unter Einhaltung einer Konstellation also, die einen Austausch von beiden Seiten beinhaltet. Würde das Fenster in Dürers Werk als binärer Rahmen benutzt, was eigentlich nicht vorgesehen ist, würde dies folgendes besagen: Die weibliche "Akteurin " könnte das Glas, das in der Mite montiert ist, als Spiegel benutzen. Der männliche Sehstrahl (seine Begierde und ihre Sublimierung als technische Leistung) würde sie nicht mehr belangen, weil ihr das Glas opak erscheint. Sie wäre mit ihrem Ebenbild für sich allein. Dazu kommt eine zurück gewonnene oder noch nicht entmachtete Lebendigkeit. Als Spiegel zeigt das Fenster nicht die typisch starre Oberfläche und geometrische Tiefe eines Gemälde. Als Spiegel würde die Frau ein veränderliches und ephemeres Bild generieren, das in dem Moment verschwindet, in dem es nicht mehr gesehen wird.

Die Konstellation von Maler und Modell dazu genommen, ginge es darum, die Vorgaben der Modellsitzung soweit auszureizen, daß das Bild, das im Entstehen begriffen ist, durch die eigene Pose geprägt und vorweg genommen wird. Der Spielraum, der dafür zur Verfügung steht, ist freilich klein, vor allem unter den "Rahmen-Bedingungen" des Zeichners, der Unvorhersehbarkeiten ausschließen möchte. Er wird jedoch größer, wenn die Portraitierte sich beweglich zeigt, eine Maskerade beginnt oder noch radikaler die Überschreitung des eigenen Geschlechts als Travestie wählt. Denn dann würde der männliche Zugriff, der auf Fixierung und Identifizierung aus ist, begreiflicherweise versagen. Diese beiden Möglichkeiten, Transgender und maskierte Identität, die in der Kunst heute nicht selten anzutreffen sind, gibt es freilich in Albrecht Dürers unbehelligtem Universum männlicher Repräsentationspotenz noch nicht.

Willem de Kooning, o. T., 1967, Öl auf Papier, 65,3 x 55,5 cm,
 Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien.
Was aber würde die Nackte sehen, würde sie das Fenster als halbdurchsichtigen Spiegel benutzen? Was wäre, wenn sie sich selbst im eigenen und im fremden Blick begegnete? Wahrscheinlich haben wir in Cindy Shermans "Untitled Film Still # 34" ein solches Beispiel vor uns. Shermans gesamtes Werk ist darin gekennzeichnet, daß sie ihre Bilder als inszenierte Selbstporträts fertigt. In der Schwarz-Weiß-Photographie von 1979 begegnen wir der Akteurin mit nackten Beinen auf einem Bett liegend. Schon diese Haltung signalisiert die Bereitschaft, die von Dürers Nackter verlangt war, nämlich sich dem männlichen Bezeichnen zu unterwerfen. Bei Sherman ist dies jedoch Entscheidung. Auf dem Bild läßt die Protagonistin den Kopf in den Nacken fallen, was den sinnlichen Charakter ihre Pin-Up Pose unterstreicht. Neben ihr auf dem Bett (man bemerke die Wirkung der Falten) liegt ein Groschenroman aufgeschlagen. Sie selbst erleben wir in träumerischer Abwesenheit, in einem Augenblick, in dem sie offensichtlich gerade dabei ist, sich in jene Szene des Buches zu versetzen, die ihre Stimmung verursacht hat. "Die Pose" so sagt Kaja Silverman zu dem Photo, "ist nicht unbedingt etwas »Aktives«." Dennoch zeige sie ein "Subjekt", weil es "in eine Funktion einrückt, bei deren Ausübung es erfaßt wird."

Interessant ist, wie Sherman, die niemals polarisch oder kategorisch trennt, für ihre Photographie verschiedene Identifizierungen verdichtet, indem sie in eine Situation der mehrfachen Nachahmungen tritt. So imitiert sie als Künstlerin für ein gestelltes Photo eine Frau, die ihrerseits in die Haltung einer anderen verfällt, einer nämlich, die von einem Trivialroman fasziniert in die Rolle einer weiteren übergleitet. Sherman "begegnet dem Blickregime", indem sie das oberflächliche Idealbild des männlichen Unterwerfungsbestrebens zu bestätigen scheint. Sobald wir der Echtheit dieser Szene mißtrauen, bemerken wir jedoch die Kritik durch den Spiegel, den uns das Photo selbst hin hält. Es ist jener Moment angesprochen - vergleichbar Mulveys Konzept des Handlungsstaus - in dem "dieses Objekt unerklärerlicherweise den Blick erwidert, das Blickverhältnis umkehrt und damit die Stelle und die Autorität der männlichen Position anficht".

Dürers Frau konnte sich nicht in den Spiegel sehen, kein Photo von sich fertigen, geschweige denn die männliche Hegemonie des Blickes bekämpfen. Das "Unbehagen der Geschlechter", von dem Butler spricht, wird hier vor allem durch die exzessive Zuschaustellung provoziert. Dürers Nackte hält mit der Linken den Saum eines Tuches vor ihr Geschlecht. Mit dieser Gebärde verbirgt sie einerseits und weist andererseits nur noch mehr darauf hin. Die sich kräuselnden Falten fokussieren zusätzlich. Die kantigen Wicklungen sind beinahe unangenehm direkt. Sie hinterspielen nicht einmal die Szene wie bei Sherman. Zudem fehlt Dürers "Voluptas", so müßte dieser Frauentyp allegorisch heißen, das Attribut (wie etwa das Buch), das von ihr ablenken könnte. Dürer konnte sich dennoch auf ikonografische Vorbilder berufen. Bei der Geste handelt es sich nämlich um ein typisches Detail, das seit der Antike vor allem von Venus-Darstellungen überliefert ist. Dürer verwendete es in seinem Werk des öfteren. Daneben wirkt das Widerspiel von Verweis und Zurückweisung, das zur Formel wurde, auf den begehrlichen Blick wie ein Schleier. Der Schleier, der Blicke anzieht und abwehrt, war für Leon B. Alberti übrigens die zweite Metapher neben der Fensteranalogie, die er für das noch junge Tafelbild des Quattrocento gebrauchte.

Yves Klein, ANT 54 - Anthropometrie., 1960,
Körperabdruck auf Papier auf Leinwand, 149 x 103 cm,
 Privatbesitz.
Wahrscheinlich aus Referenz an den Gelehrten baute Dürer ganz in den Konventionen der italienischen Malerei einen realen Fensterausschnitt in das Motiv ein. Eigentlich sind es zwei Fensterbilder, die nebeneinander verschiedene Ausblicke zeigen, ikonografisch den Geschlechtersphären zugeordnet. Interessant ist, daß es auf der linken Seite hierbei zu einer Annäherung von Frau und Landschaft kommt. Die obere Linie ihres linken Armes wirkt weich aufsteigend und erhält wie in einem Kippbild die Funktion einer Hügellinie in der Landschaftsdarstellung darüber. Dieser Vexiereffekt darf als mehr als nur ein Kunstgriff des Zeichners betrachtet werden. Denn die Verquickung lenkt noch ein weiteres Mal davon ab, daß der Zeichner diese Ansicht der Doppelkomposition eigentlich gar nicht sehen kann. Es ist uns als gleichsam neutralen Dritten vorbehalten, die semantische Überblendung von Frau und Hafen, die letztlich eine In-Eins-Setzung von Frau und Bild ist, sehen zu können. In der gezeichneten Version des Künstlers, wird die Frau als Sujet, ihres Subjektstatus beraubt, im fensterhaften Vor-Bild fast zur Gänze verschwinden. Und um genau zu sein, ist es die Auffassung des Bildes als obszöne Szene, die uns der Blick des Zeichners verwehrt.

Vielleicht weiß der Zeichner um die Unverblümtheit seines Motivs und vielleicht ahnt er auch die Unterwerfungsstrategie, die aus der Frau ein gerastertes Bild fertigt. Die strenge Methode, der Rahmen, das Schachbrett auf dem nur Spielzüge möglich sind, die im vorhinein festgelegt sind und die Perspektive als symbolische Form werden ihm dennoch Mittel und Ablenkung genug sein, um letztendlich über diese Einwände hinwegzusehen. Die Lebendigkeit von Maskerade oder Travestie, die aus einer Königin mal einen König machen könnte, sind in diesem System nicht vorgesehen. Darum sind auch die übrigen Instrumente, die - wer gerne möchte, als phallische Spitzen aufgerichtet auf dem Tisch oder bereit für den Zugriff an den Gürtel geheftet sind - nur ikonografisches Beiwerk eines kategorischen Spaltungsversuches geschlechtlicher Identität. Es sind Waffen gegen die Waffen der Frau.

Wir konnten also sehen, wie mit der perspektivisch korrekten Organisation des Raumes die Repräsentation der Frau, ihre erotische Affizierbarkeit und Erscheinung konstruiert und zugleich sublimiert wurde. Neben der orthogonalen Ordnung war dafür noch die Abbildungstreue Dürers von Belang, weil es sich um einen Aspekt handelte, der in der Geschichte der Bilder später noch folgenreicher werden sollte. Denn historisch gesehen wird sehr oft dem "Realen", vor allen Dingen dem photographisch Realen, die Schuld an der Entstehung bildlicher Obszönität gegeben. Viele Studien zum pornographischen Bild (vor allem des 19. Jahrhunderts) haben gezeigt, daß es nicht ausschließlich die einfachere Verfügbarkeit des photographischen Bildes war, die für die enorme Anzahl an erotischen Bildwerken verantwortlich zeichnete. Es war auch die im Photo sich vermittelnde Spur des Wirklichen, der Glaube an seine Echtheit, die eine neue Obszönität entfachen konnte.

Die Photographie als Technologie erscheint so besehen in der Tat als Fortsetzung des Abbildungsstrebens der frühen Neuzeit und damit auch als Fortsetzung von deren geschlechtlicher Repräsentationstradition. In diesem Sinne ist die These vom aktiven männlichen Blick, der nunmehr mit komplizierten Apparaturen und physikalisch-chemischen Prozessen das Andere im Weiblichen zu finden meint, bestätigt. Doch ist zu bedenken, daß auch die Wahrnehmung einer Geschichte unterliegt, und dies gilt insbesondere für die Ökonomie des Blickes. Kompliziert wird die Situation spätestens ab dem Zeitpunkt, ab dem die Repression männlicher Darstellung von männlichen Bildherstellern selbst in Angriff genommen wurde. Spätestens dann drang Irritation und Ironie in das Blickregime und unterwanderte seine Voraussetzungen.

Yves Klein, Postume Realisation des blau angestrahlten
Obelisken auf der Place de la Concorde, Paris 1983.
Auf einer Photographie des Surrealisten Andre Breton sehen wir einen gut gekleideten Herren. Er, der sich uns in einem stolzen und korrekten Habitus zuwendet, ist durch ein Mikroskop als Wissenschaftler ausgewiesen oder als Spezialist der Optik. So weit so gut. Doch die Seriosität seines Portraits wird empfindlich gestört durch eine zweite, dahinter liegende, völlig inkompatible Darstellungsebene. Es ist die Sphäre der Frau, die diesmal (unperspektivisch) hinter ihm hervor lugt. Schelmisch stört sie sein seriös-viriles Repräsentationsbedürfnis. Dazu lächelt sie noch hinter einem Gitter hervor. Bei dem Quadrat-Raster handelt es sich hier keineswegs um ein Konstruktionsprinzip oder Hilfsmittel zur besseren Sichtbarkeitsordnung. Es ist ein Gefängnis, aus dem das Modell sich anschickt, zu bezirzen. Vielleicht ist es sogar eine Kammer der sadistischen Neigung oder ein anziehendes Traumbild des Verdrängten, daß sich nett und beharrlich in Erinnerung ruft.

Die Zwiespältigkeit von Bretons Collage macht es deutlich: Die Voraussetzungen für die Herrschafts- und Besitzphantasien des Mannes haben sich gewandelt. Es gibt ein Eingeständnis des Triebhaften und Traumatischen. Die ernsten Einsichten führten zu allerlei selbstironischen Beiträgen. Zum Beispiel werden die Instrumente der Optik, Sinnbilder visueller Beherrschbarkeit männlicher Eroberungsgeschichte, als lächerlich empfunden. Auch das Obszöne, die "off scene", wird nicht länger als unwürdig abgedrängt, sondern im Gegenteil als Macht des Kreativen gefeiert. Träume, Sex und Erregung werden zum Teil sogar für echter gehalten als die Sichtweisen von Mikroskopen, Sextanten und Erziehung. Alles, was die eigene Kontrolle und mechanische Rasterfahndung vereitelt, war von nun an legitim.

Noch deutlicher und plakativer wird das männliche Eingeständnis an der eigenen Monströsität in einem Gemälde des französischen Malers Balthus. Dieser Künstler, den manche Kunsthistoriker gerade wegen der Konventionalität seiner Mittel als Avantgardisten betrachten, vermittelt uns die männliche Repräsentation in der Krise. Eine weibliche Figur, die unbekleidet und nur von einem Polster gestützt auf dem Bett liegt, (nicht unähnlich der Liegenden Dürers) scheint unabhängig von den männlichen Begierden. Ihren rechten Arm hält sie nach oben in Richtung eines Raben gestreckt, der über ihr auf einer Konsole sitzt, und mit dem sie geheimnisvoll kommuniziert. Vergeblich schaut der nackte(!) Mann zu der in traumwandlerischer Entrücktheit Liegenden und dem schwarzen Schnabeltier hoch. Die Frau ist ihren eigenen Phantasien hingegeben, ein wenig vergleichbar mit der Protagonistin in Cindy Shermans Photo-Inszenierung. Der eigentliche Unterschied zu dem Photo: die männliche Figur ist im Bild zu sehen, es braucht keine außerbildliche Imagination, um mit dem männlichen Blick zu sehen.

Doch diese "Identifikation" mit dem "Helden" verläuft bei Balthus keineswegs erfreulich. Sein männlicher Protagonist ist zu klein, um der Begehrten auf dem Bett gewachsen zu sein. Zu mickrig ist auch der Schemel, der ihm helfen soll, empor zu klimmen. Die Szene, in der der männliche Part nicht handeln darf, geschweige seine Blickherrschaft durchsetzen könnte, ist traurig und komisch zugleich. Der Nackte hat ebenfalls einen Raster mitgebracht. Der Schemel, den er in Händen hält, ist merkwürdig umgittert. Ein lächerliches Gefängnis, für die übermächtige Fülle, jene "feminine Opulenz", die zu aller Ironie auch noch fast maskuline, also spiegelbildliche Züge angenommen hat. Formal beachtenswert ist, daß sich das Gemälde in zwei Sektoren aufbaut. Was sich durch die Maßstabverhältnisse und die Trennung einer männlichen Wunschregion von einer weiblichen vermittelt, ist erstens eine Hierarchieumkehr und zweitens ein Paradigmenwechsel: die Frau hat es nicht mehr notwendig, den Handlungsdrang des Mannes beim Vollzug jäh zu unterbrechen. Den Widerstand der Passiven bedarf es nicht, sie ist sich selbst genug und nimmt das Andere nicht einmal mehr wahr.

Eva Babitz und Marcel Duchamp, Pasadena, 18. Oktober 1963,
Photographie von Julian Wasser. Im Hintergrund das "Große Glas".
Im Verdrängten fanden Balthus und Breton eine Antwort auf die eigenen Herrschaftsphantasien. In der Matrix des Unterbewußten begegneten sie dem männlichen Blickregime, das sie selbst herbeiwünschten. Und dennoch waren diese Bilder, die - gleichwohl ob Photo oder Tafelbild - die Konstruktion der Perspektive hinter sich lassen, immer noch keine Spiegel und daher auch nur eingeschränkt selbstreflektierend. Balthus läßt uns einen Traum miterleben, Breton verlegt sich auf das automatische Schreiben (wie uns die Bildunterschrift angibt). Beide Werke lesen sich wie sinistre Tagebücher sexueller Erregung. Es sind Monologe mit den eigenen Phantasien, die verunsichert und zugleich zu selbstbewußt präsentiert werden. Der binäre Rahmen wird ihnen trotz dieser Selbstkritik nicht gelingen. Beinahe scheint es, als würde der Gleichberechtigung der Geschlechter durch den surrealistischen Selbstdialog noch mehr entgegengesetzt, als durch eine so drastische Gegenüberstellung, wie sie Dürer anvisierte.

Die Fragen also, welche Alternative noch offen steht, welche Darstellung dem Begehren gerecht werden kann, ohne herabwürdigend zu werden, und welche Form des Realen es braucht, um das Bild von seinen Distanzierungsversuchen zu befreien, wurden immer dringlicher. In der Photographie mündete die Diskussion in der Debatte um die Aura. Man bedenke, daß Benjamin fast gleichzeitig mit den Surrealisten die Aura als "einmalige Erscheinung der Ferne, so nah sie auch sein mag", definierte. Bezogen auf die Dialektik von Szene und Obszönität scheint diese Einsicht auch als Beitrag zur Verdrängungsgeschichte der Neuzeit bemerkenswert. In der Malerei kamen indes Überlegungen auf, die ihre Mittel und die Beziehung zum Körper und körperlicher Erfahrung thematisierten.

Norman Bryson, der sich mit dieser eher beschatteten Seite künstlerischen Ausdrucks beschäftigte, hat den Begriff der ,deixis' dafür in Erinnerung gerufen. Deixis, heute hauptsächlich im Kontext linguistischer Argumentation verwendet, deutet Bryson als besondere Erzählweise, in der die "Nähe" als malerische Qualität betrachtet wird. Im deutlichen Gegensatz zur Ideologie der "Distanz", die die Renaissance durch Richtscheit und Bildschirm so deutlich anzeigte, komme in der Deixis das Jetzt und die in den Moment eingeschlossene eigene Sichtweise zu Wort. Als Redeweise beinhaltet sie eine Stellungnahme (d. h. die eigene Ortsbestimmung und ihre Relation zum Anderen) und eine Selbstreflexion der eigenen Position in Bezug auf sich und auf Fremdbestimmung. Man denkt sofort an Shermans Taktik der Maskerade, oder an das Gedankenspiel eines Spiegelstadiums vor dem binären Rahmen Albrecht Dürers.

Marcel Duchamp, Das Große Glas - La Marié mise à nu
par ses célibataires, même, 1915-23, div. Materialien,
272,5 x 175,8 cm, Philadelphia Museum of Art,
 Bequest of Katherine S. Dreier.
Noch wichtiger für den Zusammenhang ist Norman Brysons an diese Beobachtungen geknüpfte kunsthistorische These: Mit der Abbildungstreue der neuzeitlichen Malerei sei die Deixis verschwunden. Der Pinsel arbeitete seit der Renaissance "obliterativ". D.h.: er löscht beim Malen seine eigene Spur. Die Improvisationslogik der Bildherstellung, die Existenz des Bildes in seiner eigenen Zeit, der Praxis und des Körpers wurden dadurch schlichtweg eliminiert. Um seine These noch zu bekräftigen, wagt Bryson einen Vergleich mit der fernöstlichen Kunst. In Ostasien sei der Pinsel ganz anders in Verwendung. In den Weichzeichnungen chinesischer Malerei zum Beispiel bewege er sich. Er werde dort als Spur, als körperliche Gegenwart und in seiner eigenen Dauer erfahrbar. Wie konträr erscheint uns dazu die Verdrängung körperlicher Entäußerung in der Malerei Europas seit der Neuzeit, z.B. wenn Dürer an ihrem Beginn ein statisches Richtscheit montiert, um sich genau von jenen Berührungen, so nahe sie sein mögen, fern zu halten. Erst die Moderne, in ihren Spielarten des Expressionismus und Informel wird versuchen, diesen Aspekt der Authentizität für sich zu gewinnen.

Der Pinsel erschließt sich, so ließe sich Bryson weiterdenken, in diesen Strömungen ähnlich wie in China als mögliches emotionales Instrument, jedoch als Nachfahre der Beherrschungsszenarien auch als innerlich zerrissen. Als Stellvertreter und Handlanger einer nachperspektivischen Darstellung tendiert er in diesen Künsten zu mehr Aufwühlung denn körperlicher Zartfühlung. Der Pinsel der Abstraktion zeichnet Spuren enthemmter Entladung öfter als gefühlvolles Selbstgenügen. In China eher weich, feminin und ephebenhaft eingesetzt, belegt diese Tendenz der europäischen Kunst die männliche Erbschuld, die durch die lange Historie perspektivischer Verdinglichung verursacht war. Das gilt besonders für das Bild der Frau. Besonders im Informel geriet der Pinsel nicht selten außer sich und in "Eks-tase", d.h. er stieg aus der Szene heraus, um sich des Obszönen, das ihn bedrängt, noch wütender zu entledigen. Jeder Anschlag auf dem Bildgrund wirkte wie eine Geste des Verwerfens und Strafens. Der österreichische Aktionismus hatte diese Akte bis zur Selbstverletzung auf die Spitze getrieben, jedoch schon früher, etwa bei Lucio Fontana oder in der amerikanischen Malerei der Nachkriegszeit war dieser Zug sichtbar geworden.

Spätestens bei Willem de Kooning wurden die Pinselschläge zu Peitschenhieben. Der liegende weibliche Akt ist in dem Farbgewirr nur schwer zu erkennen. Jedes Darstellen ist hier schon Entstellen, jede darstellerische Bewältigung ein Überwältigen. Ein letzter Rest maskulinen Identifizierungswollens aber vermittelte sich auch noch in dieser Malerei. De Kooning hatte seine Akte stets in Landschaften eingestellt und sogar als Landschaften bezeichnet. Mit seinen sogenannten "womanscapes" hielt er daran fest, daß selbst in einer zerstörerisch gewordenen Malerei eine harmonische Verschmelzung von Frau und Bild bzw. von Frau und Landschaft, möglich sei. Und wir erinnern uns: das war auch die Assoziation Dürers in seinem geschnitzten Fensterbild links oben und nicht zuletzt ein Topos männlicher Blickökonomie.

Daß diese Versuche zwiespältig waren, die unterschwellige Aggressivität den Einsatz der Malmittel enthemmte und das Malen des anderen Geschlechts in die flagellantische Übertreibung geriet, konnte nicht verborgen bleiben. Wie aber konnte der Austritt, die extasis aus dem Rahmenwerk, vollzogen werden, ohne das Frauenbild derart in Mitleidenschaft zu ziehen? Yves Klein, ein eigenwilliger französischer Künstler mit Hang zum Ostasiatischen erdachte mit seinen so genannten "Anthropometrien" (Körpervermessungen, sic!) einen Kompromiß. Es ist dem Zufall der Geschichte zu verdanken oder der Gelehrsamkeit eines einflüsternden Kunsthistorikers, daß es derselbe Titel war, den Dürer schon für seine Proportionsstudien verwendete. Doch eigentlich fand Pierre Restany nicht das richtige Wort. Klein versuchte sich nicht in Unterweisung und Messung, sondern in Entkleidung, Geste und Wesen. Es war am Abend des 23. Februar 1958, als er einige Freunde einlud, und seine neue Werkidee vorstellte. Auf ein Zeichen hin entblößte sich ein Modell, Kleins spätere Frau Rotraut entnahm aus einem Topf blaue Pigmentemulsion und bestrich Brüste, Bauch und Schenkel bis hin zu den Knien. Danach drückte das Modell seinen Körper fünfmal gegen ein an der Wand befestigtes Papier.

Marcel Duchamp, Étant donnés: 1. la chute d'eau, 2. le gaz d'éclairage
 - Innenansicht, 1946-66, div. Materialien, 242 x 177 x 124 cm,
 Philadelphia Museum of Art, Schenkung der Cassandra-Stiftung.
Die Idee, "mit lebenden Pinseln" zu malen, setzte Klein später in einigen anderen öffentlichen Aktionen fort. Neu war, daß sich die Morphologie des Bildes ohne Einwirkung selbst entwickeln sollte. Die Frau war zur Deixis geworden und Klein fand einen Hinweis auf ihre Anwesenheit, die die gewöhnliche, rekonstruierende Repräsentation überschritt. Was bei dieser Aktion wichtig war und oft übersehen wird, war der Aspekt, daß der Künstler so tat, als sei die Frau dafür nicht mehr wichtig. Sie war zum "Instrument" geworden, um etwas darzustellen, das jenseits der Darstellbarkeit lag. Klein sah in diesen Bildern, die manchmal sogar popig-laszive Spuren von Lippenstift trugen, metaphysische Empfindung verwirklicht. Sie standen für zeitlose Entgrenzung, Transzendenz und eine im Zufall sich verdichtende Gegenwart des Numinosen. Kein Wort von erotischer Inszenierung, sexueller Exhibition oder Unterwerfung der Frauen, die er nackt/bemalt über den Boden zog. Kein Wort auch von der phallischen Symbolik, die er einmal in Erinnerung rief, als der "Pariser Obeslik" wie ein übergroßes Richtscheid über der Place de la Concorde wachte. Woran sich Willem de Kooning triebhaft abarbeitete, die Bedrohung durch die Anziehung des anderen Geschlechts, das überhöhte Yves Klein zur unangreifbaren Gegenwart. Dies gelang überraschenderweise, obwohl seine Bilder wie Flecken eines Rohrschachtests aussahen.

Zielen diese Versuche mit dem Pinsel auf eine Nähe, die sich als Aggression oder Überhöhung sublimierte, so hatte ein anderes, wahrscheinlich bedeutenderes Kunstwerk der Moderne das Thema der Trennung und des Rahmens schon vorher aufgenommen. Das Werk "La Marié mise à nu par ses célibataires, même", auch genannt das "Große Glas" von Marcel Duchamp stellte die beiden Geschlechter durch einen Rahmen getrennt dar. Es handelte sich um zwei Gläser, die übereinander montiert waren. Oben, wie ein amorpher Wolkenhimmel, schwebt das Kleid der "Braut". Sie wird von mehreren Junggesellen, die sich im unteren Bereich befinden, ebenso unermüdlich wie vergebens umworben. Der Akt der Begierde ist zugleich der Wunsch nach ihrer Entkleidung.

Trotz des Titels, der das Vorspiel des Geschlechtsakts ankündigt, verzichtete Duchamp sichtbar auf erotische Form. Die feminine Opulenz, die das Handlungsstreben der Männer zum Aufstauen bringt, wird aber auch in diesem Werk sichtbar: Was wir sehen, ist eine Konstruktionszeichnung, die in der Region der Junggesellen korrekt perspektivisch, oben in der Region der Braut verzerrt, amorph bzw. kubistisch ist. In ihr Kleid, das sich wie eine bleierne Schliere hinzieht, sind drei quadratische Öffnungen eingelassen, die Marcel Duchamp übrigens als Schleier identifiziert wissen will. Duchamp beschrieb die Formen der Junggesellenmaschine als "imperfekt, rechtwinkelig, kreisförmig, parallelipedid, symmetrisch (...), das heißt meßbar". Die metrische Darstellungsweise fand ihre Opposition in einer Visualisierung in der vierten Dimension. Die Braut hoch gerechnet auf die vierte Dimension, wurde dadurch für den Zugriff, auch für die Repräsentationsweise der zweidimensionalen Männer unerreichbar.

Jean François Lyotard, Rekonstruktion und isometrische Darstellung
 von Marcel Duchamp, Étant donnés: 1. la chute d'eau, 2. le gaz d'éclairage
Ähnlich wie in Balthus hierarchiegeschichteter Malerei stehen die vergeblich Begehrenden einer Übermacht gegenüber: Bei Duchamp artikuliert sich dies nicht mit den Mitteln der Malerei, bzw. unter Gebrauch eines obliterativen Pinsels, sondern durch eine Lötkolbenarbeit und durch einen "doppelten Rahmen", der gleichsam zwei Vorderseiten zeigt. Was im "Großen Glas" nämlich durch die Mittelleiste getrennt ist, befindet sich in Dürers Holzschnitt vor und hinter dem Glas. Das Modell, das bei Dürer in der Bettpose präsentiert wird, die "Braut", wird vom Künstler nur mehr im Blick entkleidet, mit dem er das Glas durchdringt. Das Paradoxe daran: Junggesellen und Braut sind nunmehr gleichberechtigt, insoweit sie aufeinander fixiert sind, aber sie können nicht in dieser Gleichberechtigung zueinander kommen. Unser Blick trifft allein auf Motive, die einander nicht mehr sehen können. Deshalb haben wir im "Großen Glas" auch keinen "binären Rahmen" vor uns, weil die Horizontlinie in der Mitte innerbildlich den Blicktausch der beiden Parteien verhindert. Außerbildlich führt schon die Glasfläche unseren Blick ins Leere. Benützt man das "Große Glas" wie ein Fenster, so sehe man nichts, außer den Ort, an dem es sich befindet. Es zeigt das "Dahinter", die "off scene" und den Kontext.

Wahrscheinlich aus diesem Grund, um auf die Logik des Bildes als Durchsicht und Projektion hinzuweisen, nahm Duchamp das Werk während einer Ausstellung in Pasadena 1963 als Bühnenfolie, als "Scenae Frons" einer sehr seltsamen Inszenierung. Duchamp selbst saß für einen Fototermin und spielte Schach mit einer entkleideten Frau. Die Situation, die nur im Kontext/Rahmen der Kunst als nicht obszön gelten kann, ist eine parabelhafte Inszenierung des Geschehens auf dem Bild-Schirm dahinter. Die Parallelen zum Inhalt des Glases sind offenkundig und durch die Stellung vor dem Bild beabsichtigt, aber auch der nicht anwesende Holzschnitt von Dürer kommt in den Sinn, wenn die Haltung und die Rolle des Schachbretts als Darstellungsmatrix der Differenz der Geschlechter beachtet werden.

Duchamp bezieht sich offensichtlich auf Dürers Demonstration, noch mehr übrigens in seinem zweiten großen Hauptwerk, dem viel späteren "Étant donnés", das einen Guckloch-Einblick in ein Diorama zeigt, in dem eine nackte Frau in einer Landschaft(!) liegt. In einer Rekonstruktion des Werkes durch Jean-François Lyotard wird am deutlichsten, wie sich der Aufbau an Dürers Modell-Inszenierung anlehnt. Die Rauminstallation ist nicht betretbar, und sie läßt sich jeweils nur von einem einzigen Betrachter besichtigen, der gezwungen ist, in gebückter Haltung durch die Schlüssellöcher zu starren, als handelte es sich um eine Peep-Show. Für die anderen Ausstellungsbesucher bleibt das Werk unsichtbar, und auch der Betrachter (mit monokularen Blick), befremdet von seinem unfreiwilligen Part als Voyeur, kann später nicht mehr genau sagen, was er dort in angestrengter Haltung gesehen hat. Es wäre auch unanständig, darüber zu reden, zu obszön ist die Szene. Diesmal ist die Braut wirklich entblößt und liegt mit gespreizten Beinen in einem Gestrüpp, als wäre sie das Opfer einer Vergewaltigung geworden. Unser Blick tut ihr jetzt Gewalt an, eine Gewalt, deren Vorboten sich schon früher angekündigt hatten. Diese Formen der Unterweifung waren freilich sublimiert in der Konstruktion, in der Messung, und einer Kunst der Perspektive. Diese leitete sich lateinisch aus einer "Durchsicht" ab, die jedoch Rücksicht vermissen ließ. "Rücksicht" in der Durchsicht erlaubt wahrscheinlich nur der binäre Rahmen, der in der neuzeitlichen Malerei angelegt, aber nicht gebraucht worden war.

Quelle: Thomas Trummer: Unterwerfung und Messung. Der Rahmen und der Akt bei Dürer und Dunchamp. In: Belvedere. Zeitschrift für Bildende Kunst. Heft 1/2003. Seite 60-75

Thomas Trummer, geboren 1967; Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Musik. Seit 1992 Lehrbeauftragter an der Universität Graz, seit 1996 Kurator für moderne und zeitgenössische Kunst an der Österreichischen Galerie Belvedere. Zahlreiche Publikationen zur Geschichte der Ästhetik und der Kunst der Gegenwart, zuletzt: "The Waste Land. Wüste und Eis. Ödlandschaften in der Fotografie", Wien 2002 und "Trauer", Wien 2003.


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