George Dunlop Leslie (1835-1921): Rosen [Info] |
“So fängt nur Chopin an und so schließt nur er: mit Dissonanzen durch Dissonanzen in Dissonanzen.” Mit diesen Sätzen begann Robert Schumann seine Rezension der b-Moll-Klaviersonate von Chopin, die 1840 im Druck erschienen ist. Zum Verständnis ihrer vier “tollen” Sätze genügt es, Schumann zu zitieren, denn eine treffendere Beschreibung der Sonate ist nicht gegeben worden:
Nach jenem “hinlänglich Chopin’schen Anfange folgt einer jener stürmischen leidenschaftlichen Sätze, wie wir deren von Chopin schon viele kennen. Aber auch schönen Gesang bringt dieser Theil des Werkes; ja es scheint, als verschwände der nationelle polnische Beigeschmack, der den meisten der früheren Chopin’schen Melodien anhing, mit der Zeit immer mehr, als neige er sich (über Deutschland hinüber) gar manchmal Italien zu… Aber, wie gesagt, nur ein leises Hinneigen nach südlicher Weise ist es; sobald der Gesang geendet, blitzt wieder der ganze Sarmate in seiner trotzigen Originalität aus den Klängen heraus.
Der zweite Satz ist nur die Fortsetzung dieser Stimmung, kühn geistreich, phantastisch, das Trio zart, träumerisch, ganz in Chopin’s Weise: Scherzo nur dem Namen nach, wie viele Beethoven’s. Es folgt, noch düsterer, ein Marcia funebre, der sogar manches Abstoßende hat; an seine Stelle ein Adagio, etwa in Des, würde ungleich schöner gewirkt haben. Denn was wir im Schlußsatze unter der Aufschrift ‚Finale’ erhalten, gleicht eher einem Spott, als irgend Musik. Und doch gestehe man es sich, auch aus diesem melodie- und freudlosen Satze weht uns ein eigener grausiger Geist an, der, was sich gegen ihn auflehnen möchte, mit überlegener Faust niederhält, dass wir gebannt und ohne zu murren bis zum Schlusse zuhorchen.”
Heute ist Chopins Opus 35 vor allem aus einem Grund berühmt: wegen des Trauermarschs, der zum berühmtesten Beispiel dieses Genres wurde. In unzähligen Bearbeitungen, besonders für Blaskapelle zu Beerdingungen und Prozessionen, ist die Melodie dieses Satzes so verbraucht, dass man sich ihrem Original doppelt aufmerksam zuwendet. Von dieser “Marche funebre” aus erschließen sich die übrigen Sätze des Werkes, die freilich keinen Anspruch auf “ordentlichen Sonatenstil” erheben. Schumann hielt es für eine “Caprice”, dass Chopin dieses Stück eine “Sonate” nannte, ja gar “einen Uebermuth, dass er gerade vier seiner tollsten Kinder zusammenkoppelte”.
Auf plastisch-anekdotische Weise hat Robert Schumann das Ausmaß an “Zukunftsmusik” in Chopins b-Moll-Klaviersonate deutlich gemacht: “Man nehme an, irgend ein Cantor vom Lande kommt in eine Musikstadt, da Kunsteinkäufe zu machen - man legt ihm Neustes vor - von nichts will er wissen - endlich hält ihm ein Schlaukopf eine ‚Sonate’ entgegen - ja, spricht er entzückt, das ist für mich und noch ein Stück aus der guten alten Zeit - und kauft und hat sie. Zu Hause angekommen, fällt er her über das Stück - aber sehr irren müßt’ ich mich, wenn er nicht, noch ehe er die erste Seite mühsam abgehaspelt, bei allen Musikgeistern darauf schwörte, ob das ordentlicher Sonatenstyl und nicht vielmehr wahrhaft gottloser (sei). Aber Chopin hat doch erreicht, was er wollte: er befindet sich im Cantorat, und wer kann denn wissen, ob nicht in derselben Behausung, vielleicht nach Jahren erst, einmal ein romantischerer Geist geboren wird und aufwächst, die Sonate abstäubt, und spielt und für sich denkt: ‚der Mann hatte doch so Unrecht nicht.’”
Zum Ende dieses Werkes – dem geisterhaft vorüberhuschenden, zweiminütigen Finale in lauten Oktaven ohne erkennbaren tonalen Zusammenhang – meinte Schumann zusammenfassend: “So schließt die Sonate, wie sie angefangen, rätselhaft, einer Sphinx gleich mit spöttischem Lächeln.”
George Dunlop Leslie (1835-1921): Beim Apfelschälen [Info] |
1844, fünf Jahre vor Chopins frühem Tod, entsteht ein Werk, das so farbenreich und so monumental ist wie kaum eine andere Komposition des Polen. Chopin gibt ihr den Beinamen "Konzert ohne Orchester".
"Chopin hat das Klavier revolutioniert irgendwo. Vor ihm hat niemand Fingersätze verwendet, die er verwendet hat oder den Klavierklang so ausgereizt wie er es getan hat, also er hat eine ganze neue Ära eingeleitet. Und für das Klavier ist er wahrscheinlich sogar der ideale Komponist." (Ingolf Wunder)
Nach seiner ungestümen ersten Klaviersonate aus Jugendtagen und seiner aufsehenerregenden, zukunftsweisenden zweiten, richtet Chopin das Augenmerk in seiner letzten Sonate erstmals stärker auf die klassische Sonatenform. Ihr Aufbau erinnert an die Werke der Vorbilder. Doch Chopin, Freigeist und Querdenker, lotet zugleich die Grenzen der Sonatenform neu aus: Da, wo sonst ein langsamer Satz kommt, findet sich bei Chopin ein lebendig-bewegtes Scherzo mit perlenden Achtel-Figuren. Frei, intuitiv und gefühlsbetont ist Chopins Umgang mit den musikalischen Mitteln. Seine dritte Klaviersonate brennt vor romantischem Pathos. Ernste musikalische Figuren und zarte Melodielinien erzeugen eine geradezu meditative Stimmung. Doch am Ende lichtet sich die Schwermütigkeit dann doch: Im Finale mündet die Sonate in einen ungezügelten, rauschhaften Ausbruch.
Quellen: Ein Anonymus im Booklet | Kammermusikführer Villa Musica Rheinland-Pfalz | Kristin Amme in BR Klassik
Weiterlesen: Trauermarsch in b-moll - "Marche funèbre" - 3. Satz der Sonate op.35
Track 8 Klaviersonate Nr. 3 h-moll op. 58 - IV. Finale: Presto non tanto
TRACKLIST Frédéric Chopin 1810-1849 Klaviersonate Nr. 2 b-moll op. 35 01 I: Grave - Doppio movimento 7:46 02 II: Scherzo 6:36 03 III: Marche funèbre: Lento 10:23 04 IV: Finale: Presto 11:27 Klaviersonate Nr. 3 h-moll op. 58 05 I: Allegro maestoso 8:55 06 II: Scherze: Molto vivace 2:42 07 III: Largo 9:27 08 IV: Finale: Presto non tanto 5:00 09 Fantasie f-moll op. 49* 12:57 10 Barcarolle Fis-dur op. 60* . 9:25 Total: 75:25 Daniel Barenboim Klavier Aufgenommen: VI.1974, bzw. *VI. 1973, Abbey Road Studios, London Produzent: Suvi Raj Grubb - Tonmeister. Neville Boyling Abbildung: George Dunlop Leslie (1835-1921): "Rosen" (P) + (C) 2004
Der gezähmte Tod
Graf Friedrich VII. von Toggenburg auf dem Totenbett auf der Schattenburg in Feldkirch, 1436 [Quelle] |
Diese Vorbemerkung ist durchaus erforderlich, um deutlich zu machen, in welchem Sinne ich die Themen dieser Abhandlungen ausgewählt habe. Die erste orientiert sich eher im Sinne der Synchronie. Sie umfaßt eine lange Abfolge von Jahrhunderten, etwa in der Größenordnung eines Jahrtausends. Ihr Gegenstand ist der des gezähmten Todes. Mit der zweiten treten wir in den Bereich der Diachronie ein: Welche Veränderungen haben im Mittelalter, ungefähr vom 12. Jahrhundert an, die zeitlose Einstellung zum Tode zu modifizieren begonnen, und welcher Sinn läßt sich diesen Veränderungen abgewinnen? […]
Beginnen wir mit dem gezähmten Tod und fragen wir uns zunächst, wie die Ritter des Heldenliedes oder der späteren mittelalterlichen Romane starben.
Zunächst haben sie eine Vorahnung. Man stirbt nicht, ohne Zeit gehabt zu haben, sich damit vertraut zu machen, daß man sterben wird. Andernfalls handelte es sich um den schrecklichen Tod, etwa den Pest-Tod oder den plötzlichen Tod, und der mußte als außergewöhnlich hingestellt werden, man durfte nicht von ihm sprechen. Normalerweise kündigte er sich dem Menschen jedoch an.
Hans Burgkmair (1473-1531): Sterbeszene mit Testamentaufsetzung |
In Roncevaux fühlt Roland, »daß der Tod ihn ganz übermannt. Vom Kopfe steigt er nieder nach dem Herzen«. Er »fühlt‚ daß seine Zeit zuende ist«. Tristan »fühlte, daß sein Leben dahinschwand, er verstand, daß er werde sterben müssen«. Die frommen Mönche gebärdeten sich nicht anders als die Ritter. Im 10. Jahrhundert fühlte ein ehrwürdiger Einsiedler in Saint-Martin de Tours nach vier Jahren Klausnerdasein, »daß er, wie uns Raoul Glaber erzählt, diese Welt würde verlassen müssen«. Derselbe Autor berichtet, daß ein anderer medizinisch erfahrener Mönch, der andere kranke Brüder versorgte, sich beeilen mußte: »Er wußte, daß sein Ende nahe war.«
Festgehalten sei, daß die Ankündigung sich aus natürlichen Zeichen ergab, oder, häufiger noch, eher aus einer inneren Überzeugung als aus einem übernatürlichen oder magischen Vorgefühl hervorging. Es war das etwas sehr Einfaches, sich durch alle Zeiten Hindurchziehendes, das noch in den heutigen Industriegesellschaften zum Teil überlebt hat. Etwas, das sowohl der Sphäre des Wunderbaren wie der der christlichen Frömmigkeit fremd ist: das spontane Erkennen. Da gab es nichts zu mogeln oder so zu tun, als hätte man nichts bemerkt. […]
Im 17. Jahrhundert versuchte Don Quichotte, verstiegen wie er war, dennoch nicht, in den Träumen, mit denen er sein Leben verbrauchte, dem Tode zu entfliehen. Im Gegenteil: Die Vorzeichen des Todes bringen ihn zur Vernunft. »Liebe Nichte«, sagt er sehr einsichtig, »ich fühle mich dem Tode nahe.« […]
Abbildung aus: Bericht, wie es gehe Gar nach dem A,B,C,... Peter Isselburg, Nürnberg 1616 [Quelle] |
Wenn er sein Ende nahen fühlte, traf der Sterbende seine Verfügungen. Und alles nimmt, ganz schlicht, seinen Lauf wie bei den Pougets oder bei den Muschiks Tolstois. In einer so vom Wunderbaren geprägten Welt wie der der Romans de la Table ronde ist der Tod eine durchaus einfache Sache. Als Lancelot, verwundet und im wüsten Wald verirrt, gewahr wird, daß »alle Kraft seinen Körper verlassen hat«‚ sieht er ein, daß er sterben muß. Was also tun? Gesten, wie alte Bräuche sie ihm vorschreiben, rituelle Gebärden, wie man sie vollführt, wenn der Tod nahe ist. Er legt seine Waffen ab, streckt sich ruhig auf dem Boden aus: im Bett sollte er eigentlich ruhen (»auf dem Krankenbett«, wiederholen für mehrere Jahrhunderte die Testamente). Er formt seine Arme zum Kreuz — das ist ungewöhnlich. Dem Brauch aber tut er folgendermaßen Genüge: er liegt so, daß sein Gesicht nach Osten und Jerusalem zugewendet ist. […]
In Roncevaux erwartet der Erzbischof Turpin den Tod auf der Erde liegend, »mitten auf der Brust hält er seine schönen weißen Hände gekreuzt«. Das ist, vom 12. Jahrhundert an, die Stellung der liegenden Grabfiguren. Im Urchristentum wurde der Tote mit ausgestreckten Armen in der Haltung des Betenden dargestellt. Man erwartet den Tod ruhend, liegend. Diese rituelle Stellung wird von den Liturgisten des 13. Jahrhunderts vorgeschrieben. »Der Sterbende«, sagt Gulielmus Durandus, Bischof von Mende, »soll auf dem Rücken ausgestreckt liegen, damit sein Gesicht immer dem Himmel zugewendet ist.« Diese Haltung ist durchaus verschieden von der der Juden, wie sie aus Beschreibungen des Alten Testamentes ersichtlich wird: sie kehrten sich, um zu sterben, der Wand zu.
Tod Norberts von Xanten; aus dem Norbert-Zyklus im "Traditionskodex" aus Kloster Weißenau [Quelle] |
Auf die wehmütige Klage über den Abschied vom Leben folgt die Abbitte bei den immer zahlreichen Gefährten und Angehörigen, die das Bett des Sterbenden umringen. Olivier bittet Roland um Vergebung für den Hieb, den er ihm versehentlich zugefügt hat: »›Und ich verzeihe es Euch hier und vor Gott‹. Bei diesen Worten verneigten sie sich voreinander.« Der Sterbende empfiehlt Gott die Überlebenden: »Gott segne Karl und das holde Frankreich«‚ fleht Olivier‚ »und vor allen anderen seinen Gefährten Roland.« Im Rolandslied ist weder vom Grab noch von der Wahl eines Grabes die Rede. Die Wahl eines bestimmten Grabes kommt erst in den späteren Liederzyklen der Table ronde vor.
Herzog Magnus von Württemberg auf dem Totenbett, mit den in der Schlacht von Wimpfen, 1622 erhaltenen Hieb- und Schusswunden Kupferstich [Quelle] |
Zu diesem Zeitpunkt vollzog sich der einzige religiöse — oder eher kirchliche — Akt (denn alles war religiös), die Absolution. Sie wurde vom Priester erteilt, der die Psalmen las, das Libera, Weihrauch op- ferte und den Körper mit Weihwasser besprengte. Diese Absolution wurde über dem Körper des nunmehr Verstorbenen wiederholt. Wir nennen sie »absoute«. Das Wort hat jedoch keinen Eingang in die Umgangssprache gefunden: In den Testamenten nannte man sie die recommendaces, das Libera […]
Später, in den Romans de la Table ronde, reicht man den Sterbenden das Corpus Christi. Die letzte Ölung blieb den Klerikern vorbehalten, sie wurde in der Kirche feierlich den Mönchen ausgeteilt.
Nach dem letzten Gebet bleibt nur noch das Harren auf den Tod, und der läßt für gewöhnlich nicht lange auf sich warten. Bei Olivier geht das folgendermaßen vor sich: »Sein Herz setzt aus, der Helm sinkt ihm vornüber, sein ganzer Körper streckt sich auf dem Boden. Der Graf ist tot, er weilt nicht mehr (unter uns).« Wenn es vorkommt, daß der Tod sich verzögert, so erwartet ihn der Sterbende schweigend: »Er spricht [sein letztes Gebet] und gibt fürderhin kein Wort mehr von sich« […]
Callixtus-Katakombe in Rom (Rekonstruktion). Aus: G. B. DeRossi: La Roma sotterranea cristiana, 1867 [Quelle] |
Wichtig war, daß Eltern, Freunde oder Nachbarn zugegen waren. Man führte die Kinder herein: Keine Darstellung eines Sterbezimmers bis zum 18. Jahrhundert ohne einige Kinder.
Man vergegenwärtige sich die Sorgfalt, mit der Kindern heute die gesamte Sphäre des Todes vorenthalten wird.
Schließlich ein letzter Aspekt, der bedeutsamste: Die Einfachheit, mit der die Todesriten hingenommen und vollzogen wurden, auf zeremoniöse Weise zwar, aber doch ohne dramatischen Charakter, ohne exzessive emotionale Regung. […] So ist man im Laufe von Jahrhunderten oder Jahrtausenden gestorben. In einer der Veränderung unterworfenen Welt hat die traditionelle Einstellung zum Tode den Anschein eines Komplexes von Trägheit und Unveränderlichkeit.
Diese alte Einstellung, für die der Tod vertraut und nahe und abgeschwächt, indifferent in eins war, stellt sich in schroffen Gegensatz zur unsrigen, bei der der Tod uns Angst einflößt, bis zu dem Grade, daß wir nicht mehr wagen, ihn beim Namen zu nennen. Deshalb heiße ich jenen vertrauten Tod den gezähmten Tod. Ich will damit nicht sagen, daß er früher wild gewesen sei, zumal er ja aufgehört hat, es zu sein. Ich will im Gegenteil sagen, daß er heute wild geworden ist.
Der eingefriedete Hof um die Kirche, Ort der Toten. Buchillustration von 1513 (Die Leiche blutet, weil der Mörder sie berührt) |
Trotz ihrer Vertrautheit mit dem Tode scheuten die Alten die unmittelbare Nachbarschaft der Toten und hielten sie abseits. Sie verehrten die Grabstätten: Unsere Kenntnis der alten vorchristlichen Kulturen erwächst uns zum größten Teil aus der Grab-Archäologie, aus den in Gräbern gefundenen Objekten. Eines der Ziele der Grabkulte war es jedoch, die Verstorbenen daran zu hindern, wiederzukehren und die Lebenden zu belästigen.
Die Welt der Lebenden sollte von der der Toten geschieden sein. Deshalb untersagte das Zwölftafel-Gesetz in Rom Bestattungen in urbe, innerhalb der Bannmeile der Stadt. Der theodosianische Codex wiederholt dasselbe Verbot, um die sanctitas der Wohnstätten der Lebenden zu schützen. […] Deshalb lagen die Friedhöfe auch außerhalb der Städte, an den Rändern der Ausfallstraßen wie der Via Appia in Rom, der Alyscamps in Arles.
Der Heilige Johannes Chrysostomus empfand dieselbe Abneigung wie seine heidnischen Vorfahren, als er in einer Homilie die Christen aufforderte, sich einem neuen und noch wenig verbreiteten Brauch entgegenzustellen: »Trage dafür Sorge, nie ein Grab in der Stadt anzulegen. Wenn man einen Leichnam da bettete, wo du schläfst und ißt, was würdest du tun? Und gleichwohl bettest du die Toten nicht da, wo du schläfst und ißt, sondern in den Gliedern Christi«‚ d. h. in den Kirchen.
Dennoch sollte sich der von Johannes Chrysostomus angeprangerte Brauch verbreiten und große Anziehungskraft ausüben, den Verboten des kanonischen Rechtes zum Trotz. Die Toten sollten in die Städte eindringen, aus denen sie für Jahrtausende ferngehalten worden waren.
Der Friedhof Cimetière des Innocents im Paris, um 1550: Treffpunkt und Begräbnisstätte. |
Dieses Streben nach Vereinigung hat mit den außerstädtischen Friedhöfen eingesetzt, auf denen die ersten Märtyrer begraben worden waren. Über der confessio des Heiligen wurde eine von Mönchen betreute Basilika errichtet, in deren Umkreis die Christen bestattet sein wollten. Die Ausgrabungen römischer Städte in Afrika und Spanien bieten außergewöhnliches Anschauungsmaterial, das anderswo durch Elemente späterer Städtegründungen wieder unkenntlich gemacht wird: Anhäufungen von Steinsarkophagen in mehreren Stockwerken übereinander, die insbesondere die Wände der Apsis umschließen, die der confessio am nächsten liegen. Diese Häufung legt Zeugnis ab von der Macht des Wunsches, in der Nähe der Heiligen, ad sanctos, beigesetzt zu sein.
Es trat ein Zeitpunkt ein, zu dem die Trennung zwischen den Vorstädten, wo man ad sanctos bestattete, weil man sich extra urbem befand, und dem für Grablegungen noch immer unzugänglichen Stadtkern hinfällig wurde. Wir wissen, wie sich das im 6. Jahrhundert in Amiens abspielte: Der im Jahre 540 gestorbene Heilige Vaast, Erzbischof von Amiens, hatte sich sein Grab außerhalb der Stadt gewählt. Als aber die Träger den Leichnam aufheben wollten, konnten sie den plötzlich zu schwer gewordenen Körper nicht von der Stelle bringen. Darauf bat der Erzpriester den Heiligen, Anweisung zu geben, »daß Du an den Ort geschafft werdest, den wir [d. h. der Klerus der Kathedrale] für dich vorbereitet haben.« Er deutete den Willen des Heiligen richtig, da der Körper alsbald leicht wurde. Damit der Klerus das traditionelle Verbot derart umkehren und Vorsorge dafür treffen konnte, daß er die heiligen Gräber — und die Grabstätten, die sie nach sich ziehen würden — in der Kathedrale selbst zu umsorgen hätte, bedurfte es einer deutlichen Abschwächung der alten Abneigungen.
Der Friedhof Cimetière des Innocents im Paris im 18. Jahrhundert |
In der Sprache des Mittelalters bezeichnete das Wort Kirche (église) nicht nur ausschließlich die Baulichkeiten der Kirche, sondern auch den sie umgebenden Raum: dem Sprachgebrauch im Hennegau zufolge umfaßte die église paroichiale (paroissiale [Pfarrkirche]) »das Schiff, den Glockenturm und den Friedhof«.
Man predigte, man teilte an den großen Festtagen die Sakramente aus, man unternahm Prozessionen im Hof oder im atrium der Kirche, das ebenfalls geweiht war. Umgekehrt fanden Beisetzungen zugleich in der Kirche, an ihren Mauern und in deren unmittelbarer Nähe, in porticu, und unter den Dachtraufen, sub stillicidio, statt. Das Wort cimetière meinte insbesondere den äußeren Raum um die Kirche, das atrium oder aître. Aître ist deshalb eines der von der Umgangssprache benutzten Worte zur Bezeichnung des Friedhofs, während der Ausdruck cimetière bis zum I5. Jahrhundert eher dem Kirchenlatein zugehört. […] Es gab im Französischen ein anderes, als Synonym für aître benutztes Wort: charnier (Beinhaus). Es kommt, in der Form carnier, bereits im Rolandslied vor. […]
Schädelkapelle aus dem 30jährigen Krieg, Tscherbenei im Riesengebirge |
Immer ist er der rechteckige Hof der Kirche, deren Mauerwerk im allgemeinen eine seiner vier Seiten bildet. Die drei anderen werden häufig von Bogengängen oder Beinhäusern eingenommen. Über diesen Galerien sind kunstvoll die Gebeine oder Schädel und Gliedmaßen angeordnet: Die Suche nach dekorativen Effekten mit Gebeinen als Material führte mitten im 18. Jahrhundert zu der makabren und barocken Bildkunst, wie man sie beispielsweise noch heute in der Kapuzinerkirche in Rom oder in der hinter dem Palazzo Farnese gelegenen Chiesa della Orazione e della Morte sehen kann — Lüster und Ornamente, die aus nichts als kleinen Knöchelchen verfertigt sind.
Kapuzinerfriedhof in der Kirche Immacolata Concezione, Rom |
Daß die Toten Eingang in die Kirche und ihren Hofbezirk gefunden hatten, hinderte beide nicht daran, zu öffentlichen Örtlichkeiten zu werden. Der Begriff des Asyls und des Refugiums steht am Ursprung dieser nicht-funeralistischen Bestimmung des Friedhofs. Für den Lexikographen, wie Du Cange einer war, war der Friedhof nicht immer zwangsläufig der Ort, an dem Bestattungen vorgenommen wurden; er konnte auch, unabhängig von jeder funeralistischen Bestimmung, Ort des Asyls sein und war durch diesen Begriff definiert: azylus circum ecclesiam.
Deshalb entschloß man sich, auf diesem Friedhof genannten Asylbezirk — ob dort nun Beisetzungen stattfanden oder nicht — Häuser zu bauen und sie zu bewohnen. Der Friedhof bezeichnete damit wenn nicht ein Wohnviertel, so doch wenigstens eine inselartige Ansammlung von Häusern, die in den Genuß bestimmter fiskalischer oder Domänen-Privilegien kamen. Schließlich wurde dieser Asylbezirk zu einer Stätte der öffentlichen Begegnung und Versammlung wie das Forum der Römer, die piazza major oder der corso mediterraner Städte, mit dem Zweck, dort Handel zu treiben, zu tanzen und zu spielen oder einfach nur gesellig beisammenzusein. Seitwärts der Beinhäuser richteten sich Gewerbetreibende und Läden ein. […]
Katakomben der Kapuziner in Palermo |
Das Schauspiel der Toten, deren Gebeine an der Erdoberfläche der Friedhöfe zutage traten wie Hamlets Schädel, beeindruckte die Lebenden nicht mehr als die Vorstellung ihres eigenen Todes. Sie waren an die Toten ebenso gewöhnt, wie sie sich mit dem eigenen Tod vertraut gemacht hatten. […]
Quelle: Philippe Ariès: Studien zur Geschichte des Todes im Abendland. (Übersetzt von Hans-Horst Henschen). (Hanser Anthropologie, Hrsgr Wolf Lepenies u. Henning Ritter.) Hanser, München/Wien 1976. ISBN 3-466-12284-2. Seiten 19 bis 30 (gekürzt)
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